Serie zur Integration in Deutschland Wir brauchen eine neue deutsche Einheit

Düsseldorf · Die Bundesrepublik hat Diskussionsbedarf in Sachen Integration. In einer zehnteiligen Serie, die sich an zehn Thesen orientiert, gehen wir dem Thema nach – sachlich, fundiert, umfassend.

Neulich fuhr mich Steven im Taxi nach Hause. Er ist Roma. Er gehört zu jener heimatlosen Volksgruppe, die wie kaum eine andere Ausgrenzung und Ablehnung auf ihren Wanderungen durch Europa erfahren hat. Auch in meinem Kopf löste der Begriff Assoziationen aus: Zigeuner! Problemgruppe! Ich konfrontierte Steven mit meinen Vorurteilen.

Er blieb ruhig. Und erzählte. Von seinem Vater, der vor über 30 Jahren nach Deutschland kam und unter Tage schuftete. Von den Steuern, die seine Familie zahlt, seinem deutschen Pass und seiner Liebe zum Fußball. Und von dem Stigma, das ihn begleitet. „Wir gelten als Schnorrer, dabei ist es in meiner Familie verpönt, Geld vom Staat zu nehmen. Ich arbeite, seitdem ich denken kann“, sagte Steven. Und mit der Polizei habe er noch nie etwas zu tun gehabt. Ich schämte mich. Und fühlte mich ertappt.

Vorurteile, diese Biester im Kopf, sind die größte Hürde beim Jahrhundertprojekt Integration. Schon bei den drei bedeutenden Wanderungsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg hatten wir damit zu kämpfen. Die Vertriebenen aus dem Osten erlebten im Westen nur selten eine Willkommenskultur. Millionen Gastarbeiter aus Portugal, Spanien, Italien und der Türkei wurden als billige Wirtschaftskräfte geholt, man parkte sie aber schon städtebaulich im Abseits. Sie sollten ja wieder gehen.

Bis heute existieren Parallelgesellschaften, auch weil vielen Migranten das Gefühl, dass die Mehrheitsgesellschaft sie respektiert, auf dem Schulhof oder im Bewerbungsgespräch, verweigert wurde. Aber auch, weil es sich viele Migranten in ihren separaten Strukturen bequem gemacht haben, ihnen der Drang zur Teilhabe fehlt. In manchen Straßenzügen von Duisburg, Essen oder Dortmund sind städtische Hinweisschilder oft die einzigen deutschsprachigen Elemente im öffentlichen Raum.

Selbst die Neubürger aus der früheren DDR erlebten in der Bundesrepublik nach anfänglicher Euphorie Ablehnung. Vorurteile können wir ganz gut. Und nun soll diese Bundesrepublik Hunderttausende integrieren, die in Gesellschaften aufgewachsen sind, in denen westliche Werte Mangelware sind? Sie wird es tun müssen, denn viele werden bleiben. Die Integrationsdebatte muss nun nach vorne gerichtet werden, nach dem Wie fragen, nicht nach dem Ob. Vorurteile erschweren diesen Weg, weil sie das Andersartige betonen. Als „überstürzte Meinung“ hat der römische Philosoph Cicero sie einst bezeichnet.

Überstürzt ist dieses Land in die Debatte geschlittert. Es sollte ja eine Ausnahme sein, als Bundeskanzlerin Angela Merkel im September 2015 geschätzt 6000 Flüchtlinge aus Ungarn einreisen ließ. Eine humanitäre Notwendigkeit. Isoliert betrachtet, eine richtige Entscheidung. Danach kamen viele. Bis zu 10.000 am Tag. Deutschland zeigte ein freundliches Gesicht. Den Bürgerkriegsflüchtlingen, aber auch allen anderen, die das Wort „Asyl“ aussprechen konnten.

Kontrolle, Steuerung, Registrierung der Flüchtlinge? Fehlanzeige! Gewalttaten einiger Neubürger schreckten die Nation auf, befeuerten den unter der Oberfläche lodernden Fremdenhass. Kommunale Spitzenvertreter sprachen von „Staatsversagen“. Die Vermischung des verfassungsrechtlich garantierten Schutzes für Verfolgte und einer Zuwanderung aus wirtschaftlichen Motiven ließ den Unmut wachsen. Selbst im Bildungsbürgertum fällt das Wort der „Überfremdung“. Man muss nur mal bei Facebook nachschauen, was die alten Studienfreunde so schreiben. Verständlich ist dagegen: Keine Gesellschaft verträgt es dauer­haft, wenn nicht klar ist, wer aus welchem Grund Teil dieser Gesellschaft werden kann. Bis heute ist der Kern der Glaubwürdigkeitskrise des Rechtsstaats dort zu finden. Die erfolgreiche Reanimation der totgeglaubten AfD ist die schmerzhafteste Folge.

Drei Jahre nach Angela Merkels Entscheidung hat sich die Lage nicht beruhigt. Im Gegenteil: Aus der Flüchtlingsfrage ist eine Generaldebatte über Zuwanderung geworden. Der Fokus liegt auf dem Islam, wie die wiederkehrende Debatte über den Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“ zeigt.

Dabei geht es eigentlich darum, welcher Islam zu Deutschland passt. Die Skepsis gegenüber Muslimen ist breit gestreut. Gäbe es eine Diskussion, wenn eine Million Norweger gekommen wären? Helmut Schmidt, sozialdemokratischer Altkanzler, hat bis zu seinem Tod die These verfolgt, dass sich Deutschland mit der Zuwanderung von Menschen aus muslimischen Ländern übernommen habe. „Wer die Zahl der Moslems in Deutschland erhöhen will, nimmt eine zunehmende Gefährdung unseres inneren Friedens in Kauf“, schrieb Schmidt schon 2008. Rund 60 Prozent der Deutschen teilen laut einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung diese These. Jede Meldung eines Übergriffes eines muslimischen Asylbewerbers verstärkt die Ablehnung. Gesellschaftlicher Sprengstoff, immerhin leben rund fünf Millionen Muslime hier. Die Tonlage in der so auf Konsens bedachten Bundesrepublik ist aufgeheizt, die Fähigkeit zum sachlichen Diskurs verkümmert.

Die Vorurteile liegen tief. Man spürt es im Freundeskreis, am Gartenzaun, in der Kantine. Und in den sozialen Netzwerken. Der junge, männliche Asylbewerber aus Nordafrika, der Frauen missbraucht und mit dem Messer auf andere losgeht, den gibt es. Er ist kein Einzelfall, aber auch kein Stereotyp. Wer erfährt schon von dem integrierten, fleißig arbeitenden Flüchtling aus Eritrea, der sich nichts zuschulden kommen lässt? Diese Verzerrung ist eine Mahnung auch an uns Medienschaffende. Trotzdem lässt sich die Sozialisierung mancher junger Männer in patriarchalischen, autoritären und unfreien Gesellschaften nicht in einem Integrationskurs wettmachen. Es geht nicht um Rassismus oder die Abwertung einer Religion, wenn das Aufwachsen in einer anderen Welt als Erklärungsmuster für bestimmte Verhaltensweisen herangezogen wird. Soll man nun die Integration dieser Menschen unversucht lassen und jeden jungen Mann rausschmeißen, der Richtung Mekka betet? Natürlich nicht!

Besser wäre es, wir überlegen uns, wie jene, die da sind und bleiben dürfen, mit uns statt neben uns leben können. Es wird Zeit, dass Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einen umfassenden Anlauf nehmen, um das Gemeinsame zu definieren.

Zugespitzt: Wir brauchen einen Zehn-Punkte-Plan für eine neue deutsche Einheit. Einen nationalen Konsens. „Integration ist nicht das Zelebrieren von Unterschieden, sondern die Festlegung von Regeln", sagt der palästinensische Autor und Psychologe Ahmad Mansour.

Das Grundgesetz ist hilfreich. Aber nicht ausreichend. Die Würde eines jeden Menschen ist unantastbar. Aus diesem ethischen Fundament leitet sich alles ab. Aber was genau heißt das, wenn gelebte Traditionen im Alltag aufeinanderprallen, von der Schulpflicht bis hin zur Vollverschleierung? Lässt sich die Integration der Vielen aus so unterschiedlichen kulturellen Hintergründen überhaupt gewährleisten? Wenn wir in die Vergangenheit schauen, gehörte die deutsche Integrationspolitik nicht zu den Exportschlagern. Wir lassen uns für unsere Offenheit und unsere organisierte Solidarität weltweit feiern, und doch grassiert zuhause der Argwohn gegenüber Fremden. Da müssen wir wieder rauskommen.

Eine Bedingung ist, dass wir uns auf eine rationale Migrationspolitik verständigen, die den Rechts­staat in den Mittelpunkt stellt, aber die Orientierung des Handelns am christlichen Menschenbild ermöglicht. Wir brauchen einen Plan, der spürbare Konsequenzen für jene bedeutet, die unseren Freiheitsrechten zuwiderhandeln, und zugleich die Aufstiegschancen für alle maximiert. Die Bildung ist der Schlüssel zur Integration, sagen die Klugen.

In der Realität hängt das Fortkommen aber oft mit der Herkunft zusammen. Ich erinnere mich an meinen Kumpel aus der Grundschule, Oguz. Deutschtürke. Gute Noten. Kluger Typ. Großzügig. Er schenkte mir seine Godzilla-Figur. Nach der Grundschule ging ich aufs Gymnasium, seine Eltern schickten ihn auf die Hauptschule. Sie dachten, das müsse man so machen. Ich habe ihn nie wiedergesehen. In einem nationalen Integrationsplan muss das Bildungsversprechen im Zentrum stehen. Integration ist mehr als Job plus Sprache minus Kriminalität, wie manch ein Soziologe meint. Integration ist Wertschätzung, Anerkennung durch Aufstieg. Das Ziel einer gemeinsamen Identität, die nicht mehr in „Deutsche“ und „Halb-Deutsche“ unterteilt, wie es der Bundespräsident Anfang der Woche kritisierte, wäre dann keine Utopie mehr.

Wir brauchen einen Plan, der die Chancen der Migration erkennt, ohne die Balance in einer Gesellschaft zu gefährden, in der schon heute jedes dritte Kita-Kind eine Migrationserfahrung hat. Dazu müssen wir Kriterien entwerfen, wen wir brauchen und was wir von den Neubürgern verlangen. Wenn wir Zuwanderern klarmachen, dass Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit nicht nur unsere unumstößlichen Werte sind, sondern auch eine Bereicherung für sie selbst. Laut dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler gelingt Integration, wenn die Zahl derer, die das Problem für bewältigbar halten und zu einem konstruktivem Mittun bereit sind, deutlich größer ist als die Zahl derer, die missmutig sind und sich in die lautstarke Behauptung ihrer und anderer Überforderung flüchten.

Wir als Rheinische Post gehören zur ersten Kategorie. Auch deshalb wollen wir mit der heute beginnenden Serie „Integration“ eine Debatte darüber führen, was „bewältigbar“ bedeuten könnte. Anhand von zehn Thesen widmen wir uns in einer 360-Grad-Perspektive dem Thema Integration. Von der christlichen Perspektive über die Frage nach der gemeinsamen Identität bis hin zur Suche nach einem liberalen Islam.

Die zehn Thesen der Serie:

- Wir können von unseren Nachbarn lernen – sowohl bei der Aufnahme als auch bei der Ablehnung.

- Entwicklungshilfe hilft nicht gegen Migration – es braucht eine neue Afrikapolitik.

- Ungleichheit verschärft die Migration – offene Grenzen bleiben deshalb vorerst eine Utopie.

- Wir brauchen ein europäisches Asylsystem – und ein neues Verständnis für den Wert der Institution Asyl.

Sie haben Anmerkungen zur Serie und wollen mitdiskutieren? Schreiben Sie mir an chefredakteur@rheinische-post.de!

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