Plädoyer Warum Deutschland eine Leitkultur-Debatte braucht

Düsseldorf · Nur wer sich selbst kennt, kann Zuwanderer integrieren – deshalb ist die Debatte über eine Leitkultur notwendig. Ein Plädoyer für ein neues Nachdenken über das, was uns ausmacht, und die Integration beflügelt. Vierter Teil unserer Serie zum Thema Migration.

 Eine Deutschland-Flagge auf dem Reichstagsgebäude in Berlin (Archivfoto).

Eine Deutschland-Flagge auf dem Reichstagsgebäude in Berlin (Archivfoto).

Foto: dpa

Wer einem Menschen begegnet, den er kaum kennt, mit dem er aber in Zukunft viel zu tun haben wird, der muss sich bekannt machen. Der muss sagen, wer er ist, woher er kommt, was ihm wichtig ist. Natürlich gilt das auch, wenn größere Gruppen aufeinandertreffen, Migranten und schon seit Generationen hier lebende Deutsche etwa. Und eigentlich bedeutet eine Leitkultur zu formulieren genau das: Sagen, wer man ist, und was man für wichtig hält.

Allerdings offenbaren der Begriff und die erbitterten Debatten über dessen Verwendung, dass es beim Thema Migration keine herrschaftsfreien Räume gibt. Natürlich steckt schon in dem Wort Leitkultur ein Machtgefälle: Wer leitet, gibt etwas vor und stellt sich damit über andere. Gerade diese Hierarchie macht das Wort so attraktiv für jene, die mit ihren Reden vor allem Ausgrenzung betreiben. Man kann also sagen, dass die Leitkultur selbst gegen einen Grundsatz verstößt, den sie doch eigentlich zu schützen vorgibt, gegen den Gleichheitsgrundsatz nämlich. Oder wie der Schriftsteller Navid Kermani es formuliert hat: Vor dem Grundgesetz sind alle gleich, in einer Leitkultur nicht.

Vielleicht ist es aber an der Zeit, sich nicht zuerst mit dieser in Sprache gegossenen Machtfrage zu beschäftigen, sondern mit den Inhalten einer neuen Leitkultur. Spätestens seit den Ausschreitungen in Chemnitz und den aggressiven Auseinandersetzungen seither, ist doch klar, dass die Definition dessen, was uns trägt, nicht nur wegen der Zuwanderung nötig ist, sondern auch, weil im wiedervereinten Deutschland ein Wertekonsens fraglich geworden ist. Selbstverständlich war er nie, aber das wurde nicht so offen hinausgepöbelt. Jedenfalls waren rassistische Entladungen wie in Hoyerswerda bald wieder vergessen.

Eine Leitkultur zu umreißen wäre dann der Versuch, zu benennen, was uns prägt, und woran wir festhalten wollen. Regeln für das Miteinander etwa wie Toleranz, Gleichberechtigung der Frauen, Gleichheit vor dem Gesetz. Natürlich ist das in unserer Verfassung festgeschrieben. Aber es geht darüber hinaus.

Diese Inhalte einer Leitkultur dienten dann eben nicht dazu, durch die Hintertür nationales Bewusstsein, ein Blut-und-Boden-Verständnis von Deutschsein zum Kriterium des Dazugehörens zu erheben. Vielmehr ginge es darum, aus der Vergangenheit schöpfend zu beschreiben, wer wir sind. Dazu gehören dann Kant und die Aufklärung genauso wie Hitler und die Barbarei, die von Deutschland ausging. Dazu gehört auch die Feststellung, dass der Islam die deutsche Kultur in der Vergangenheit kaum geprägt hat, dass er heute aber eine Kraft ist, die in die Gesellschaft wirkt. Vielfach konstruktiv, das gilt es wertzuschätzen. Und wo nicht, den Konflikt nicht zu scheuen.

Eine neue Leitkultur muss anerkennen, dass wir ein Einwandererland sind und nicht in Abwehrreflexe verfallen, sondern mit neuem Selbstbewusstsein Prinzipien wie Toleranz, Meinungs- und Religionsfreiheit stark machen. Auch das so gut ausgebildete, bürgerschaftliche Engagement in Deutschland, die vielen Vereine, Initiativen und kulturellen Einrichtungen, sind Teil unserer Identität. Dieser Sinn für soziale Verantwortung kann etwas sein, das wir zur Leitkultur erheben, und das zugleich die Integration vorantreibt. Gelebte Praxis ist das ja längst – in vielen Vereinen sind Migranten aktiv. Eine neue Leitkultur würde das wertschätzen.

Der Politologe Bassam Tibi, der die Debatte vor mehr als 20 Jahren mit angestoßen hat, betont, dass gerade Gesellschaften, die sich traditionell eher über die ethnische Zugehörigkeit definiert haben, vor der Aufgabe stehen, ihre Identität neu zu bestimmen. Nur dann können sie diese Vorstellungen auch an Einwanderer weitergeben. So ließe sich auch eine europäische Leitkultur entwickeln, wie es etwa der CDU-Politiker und ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert angeregt hat. Sie würde verhindern, dass im Wort Leitkultur immer etwas Nationales mitschwingt, das Teilhabe verhindert. Der Philosoph Heiner Bielefeld nennt dies den „semantischen Überschuss“ des Wortes Leitkultur, etwas, das unbestimmt bleibt – und ausgrenzend wirkt. Eine europäische Leitkultur stünde über dem Nationalen. Sie wäre ja selbst das Ergebnis eines integrativen Prozesses.

Allerdings fehlte ihr derzeit noch etwas, das anscheinend auch nötig ist, damit Menschen sich mit den Grundwerten ihrer Gesellschaft identifizieren: das Empfinden von Zugehörigkeit. Es gibt eben Dinge, die als typisch deutsch empfunden werden, und die Menschen auch in einer Einwanderergesellschaft nicht missen möchten.

An diesem Punkt gilt es anzusetzen. Was ist wichtig für ein deutsches Selbstverständnis, ohne deutschtümelnd zu sein? Was zeichnet uns aus und hat das Zeug, Zuwanderer wie Alteingesessene für ein gutes Miteinander zu gewinnen? Auf diese Art über Leitkultur nachzudenken, öffnet neue Perspektiven. Dabei muss es nicht um Banalitäten wie das Händeschütteln gehen, aber womöglich um Stereotype. Pünktlichkeit etwa. In Deutschland sind Terminabsprachen meist verlässlich. Wer mal in anderen Kulturkreisen gelebt hat, weiß, wie nützlich das ist. Respektvoller Umgang mit der Zeit des anderen – auch so etwas könnte Teil der Leitkultur sein. Oder das deutsche Männerbild, das sich vom Machismo früherer Zeiten emanzipiert hat. Dass Männer in Deutschland Verantwortung in Kindererziehung und Haushalt übernehmen, taugt als positives Identitätsangebot. Genau wie die Fähigkeit, weiter über Geschlechtergerechtigkeit zu diskutieren.

Die Debatte über die Inhalte einer Leitkultur, die nicht bevormunden, sondern selbstbewusst Beispiel geben will, muss erst noch beginnen.

Die Bundesrepublik hat Diskussionsbedarf in Sachen Migration. In einer zehnteiligen Serie, die sich an zehn Thesen orientiert, gehen wir dem Thema nach – sachlich, fundiert, umfassend. Den Auftakt finden Sie hier und alle Teile der Serie hier.

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