Migrantenwahlstudie "AfD blieb weit hinter den Erwartungen zurück"

Duisburg · Forscher aus NRW untersuchen erstmals das Wahlverhalten großer Migrantengruppen in Deutschland. Ihre Studie relativiert die Beliebtheit der AfD unter den Russlanddeutschen. Aber auch andere Ergebnisse überraschen die Wissenschaftler.

Bei der vergangenen Bundestagswahl hatten etwa zehn Prozent der Wähler einen Migrationshintergrund. Es handelt sich also um eine große Gruppe, die anders aufgewachsen sei als die eingesessene Bevölkerung, sagt Forscher Dennis Spies von der Universität Köln. Trotzdem sei bislang kaum bekannt, wen diese Menschen wählten und warum. Das wollen er und seine Kollegen von der Duisburg-Essen mit einer Migrantenwahlstudie ändern.

In den Wochen nach der Bundestagswahl haben die Politikwissenschaftler bundesweit knapp 1000 Zuwanderer befragt. Dabei konzentrierten sie sich auf die beiden größten Migrantengruppen in Deutschland: die etwa 1,3 Millionen Deutschtürken und die rund 2,4 Millionen Russlanddeutschen. Sie befragten jeweils knapp 500 Personen, die selbst oder deren Eltern aus der Türkei oder der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind. Es sei die erste Untersuchung dieser Art, sagt Spies. Seit Ende Januar lägen die Ergebnisse den Forschern vor. Einige Resultate hätten sie überrascht, sagt der Kölner Wissenschaftler.

Zum Beispiel das Abschneiden der AfD. Zwar punkte die Partei bei den Russlanddeutschen stärker als bei den Wählern ohne Migrationshintergrund, sagt Professor Achim Goerres von der Universität Duisburg-Essen. In der Umfrage hätten rund 15 Prozent der Russlanddeutschen gesagt, dass sie ihre Zweitstimme der AfD gegeben hätten. Insgesamt erreichte die rechtspopulistische Partei dagegen 12,6 Prozent bei der Bundestagswahl.

Aber zwei andere Parteien hätten in der Umfrage bei den Russlanddeutschen noch besser abgeschnitten als die AfD, sagt Spies weiter: 27 Prozent der Russlanddeutschen hätten nach eigenen Angaben die CDU gewählt, weitere 21 Prozent die Linke. Selbst wenn einige Teilnehmer der Umfrage nicht die Wahrheit gesagt haben sollten, sind sich die Forscher sicher: "Die AfD blieb als dritte Kraft hinter der Union und den Linken weit hinter den Erwartungen zurück, die medial geschürt wurden", sagt Goerres.

Russlanddeutsche gelten als eher konservativ und mehrheitlich als CDU-Wähler. Aber in den vergangenen Jahren sollen sich viele wegen Angela Merkels Flüchtlingspolitik von der Union abgewandt und in der AfD eine neue Heimat gefunden haben. In Wahlbezirken, in denen viele Russlanddeutsche leben, holte die Partei bei den vergangenen Wahlen tatsächlich zum Teil hohe Ergebnisse. Trotzdem wehrten sich viele Russlanddeutsche schon vergangenes Jahr gegen den Vorwurf, dass sie begeisterte Unterstützer der AfD seien.

  • Die Wahlbeteiligung lag bei den beiden Migrantengruppen deutlich unter der allgemeinen Wahlbeteiligung: Laut der Studie gaben nur 64 Prozent der Deutschtürken und 58 Prozent der Russlanddeutschen ihre Stimme ab. Dagegen gingen 76,2 Prozent aller Wahlberechtigten zur Wahl. Es sei bekannt, dass sich Migranten weniger an Wahlen beteiligen, sagt Spies. Aber er und seine Kollegen seien überrascht, wie viel geringer die Wahlbeteiligung bei den beiden Gruppen bei der Bundestagswahl gewesen sei.
  • In der Studie gaben 35 Prozent der Deutschtürken ihre Stimme der SPD. CDU/CSU bekamen von ihnen 20 Prozent. Die Linke kam auf 16 Prozent. Die Deutschtürken hätten tendenziell eher links gewählt als der Durchschnitt in Deutschland, sagt Spies. Die AfD habe dagegen null Prozent erhalten.
  • Die Russlanddeutschen hätten tendenziell eher rechts gewählt, sagt Spies weiter. Die Forscher haben in dieser Wählergruppe aber eine Polarisierung festgestellt: Denn während CDU/CSU 27 Prozent und die AfD 15 Prozent bekamen, stimmten gleichzeitig 21 Prozent für die Linken und 12 Prozent für die SPD.
  • Aber generell hätten CDU/CSU und SPD bei Deutschtürken und Russlanddeutschen Einbußen erlitten. "In beiden Gruppen haben die beiden Volksparteien, die ehemals dominant waren, verloren", sagt Spies.
  • Die Partei "Allianz Deutscher Demokraten", die der AKP des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nahesteht und nur in NRW antrat, wurde von zwölf Prozent der Deutschtürken gewählt. "Das ist für eine Partei, die sich gerade erst gegründet hat, ein außerordentliches Ergebnis", sagt Spies.
  • Trotzdem sind die Forscher davon überzeugt, dass die Mehrheit der Deutschtürken gegen Erdogan sind. Erstens, weil sie den türkischen Präsident auf einer Skala von minus 5 bis plus 5 im Schnitt mit minus 2,5 bewerteten. Bundeskanzlerin Angela Merkel schnitt mit plus 1,6 deutlich besser ab. Zweitens, weil in der Umfrage nur 21 Prozent der Deutschtürken sagten, sie hätten beim türkischen Referendum für die Reform gestimmt, wonach Erdogans Befugnisse ausgeweitet werden. An der Abstimmung im April 2017 hatte knapp die Hälfte der in Deutschland lebenden wahlberechtigten Türken mit türkischer oder doppelter Staatsbürgerschaft teilgenommen. Offiziellen Zahlen zufolge stimmten mehr als 60 Prozent für die Verfassungsänderung.

Was folgt aus den Ergebnissen? Darauf geben die Wissenschaftler noch keine Antwort. Die Ergebnisse lägen noch nicht lange genug vor, sagt Spies. Er und seine Kollegen müssten die Antworten der rund 1000 Teilnehmer auf die etwa 250 Fragen erst noch weiter auswerten. Außerdem würden sie im Sommer mit den 457 Deutschtürken und 489 Russlanddeutschen noch einmal sprechen und sie fragen, ob sie sich mittlerweile für eine andere Partei entscheiden würden. Spies rechnet deshalb mit weiteren etwa eineinhalb Jahren Forschungsarbeit.

(wer)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort