Neonazi-Mordserie Merkel spricht von "Schande für Deutschland"
Berlin · In einer bewegenden Gedenkfeier hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die Angehörigen der Neonazi-Mordopfer um Verzeihung für Fahndungspannen und falsche Verdächtigungen gebeten. Angehörige schilderten ihr Leid – und griffen symbolisch zu einer Kerze der Hoffnung.

Deutschland gedenkt der Neonazi-Opfer
In einer bewegenden Gedenkfeier hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die Angehörigen der Neonazi-Mordopfer um Verzeihung für Fahndungspannen und falsche Verdächtigungen gebeten. Angehörige schilderten ihr Leid — und griffen symbolisch zu einer Kerze der Hoffnung.
Mut zu einem anderen Gedenken haben die Staatsorgane an diesem Donnerstag im abgeriegelten Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt. Ja, es gibt die klassische Musik, wie sie bei Staatsakten üblich ist. Ja, es gibt die wohlgesetzten Worte. Aber es gibt dieses Mal auch mehr, viel mehr. Brennende Kerzen, persönliche Trauer, Emotionen pur.
Der Staat zeigt, dass ihn die Mordserie der Neonazi-Terrorzelle nicht kalt lässt, dass er mit den Angehörigen trauert, sich selbst von ihnen getroffen fühlt und auch seine Wut in Worte fasst: "Schande!", sagt die Bundeskanzlerin. Angela Merkel ist für den zurückgetretenen Bundespräsidenten eingesprungen. Christian Wulff hatte die Integration zum Thema seiner Präsidentschaft gemacht. Es sollte auch seine Gedenkveranstaltung sein.
Ein ganz zentraler Punkt in seinem Anliegen, die Menschen in Deutschland zusammen zu führen. Die von ihm schon vor Monaten ins Schloss Bellevue eingeladenen Angehörigen danken es ihm nun in Abwesenheit. "Wir bewundern ihn", sagt Ismail Yozgat. Yozgats Auftritt ist nicht geplant. Dass er trotzdem spontan zustande kommt, unterstreicht den Wert dieser Gedenkveranstaltung der Verfassungsorgane mit 1200 geladenen Gästen, allen voran den betroffenen Angehörigen, aber auch vielen, die die Zivilgesellschaft vertreten.
Yozgat braucht sich nicht zu rechtfertigen, warum er an diesem Tag, an dem überall in einer Gedenkminute die Arbeit ruht, zu den anderen Deutschen sprechen will, auch wenn die ihn nur durch eine Dolmetscherin verstehen. Er will nämlich ganz klar sein heute, und deshalb spricht er Türkisch. Wie sehr er dabei in Deutschland zu Hause ist, verrät seine lokalpatriotische Korrektheit. Als die Dolmetscherin ihn mit den Worten von "meiner Heimatstadt Kassel" zitiert, fällt er ihr ins Wort: "Baunatal". Das ist so, als hätte man den Grevenbroicher als Mönchengladbacher bezeichnet. Und das geht nicht. Zumindest nicht für den Baunataler Yozgat.
Die Verbesserung des konkret erlebten Heimatortes in diesem Augenblick, in dem die Gedanken wahrlich mit anderen Dingen beschäftigt sind, zeigt in einem kleinen Detail, wie deutsch Ismail denkt. Er muss auch nicht lange schildern, was er mit dieser Gedenkfeier zu tun hat. Sein Sohn Halit ist 2006 in seinen Armen gestorben, ermordet von der Zwickauer Neonazi-Zelle in seinem kleinen Internetcafé. 21 Jahre war er, und er hatte sein Leben eigentlich noch vor sich.
Merkel geht auf die Opfer und Angehörigen ein
Angela Merkel geht anfangs auch auf ihn ein. So wie auf jedes andere der zehn Mordopfer. Während Besinnlichkeit fördernder Passagen aus Bachs d-Moll-Doppelkonzert haben Schüler langsamen Schrittes Kerzen durch das abgedunkelte Konzerthaus auf die Bühne getragen und dort in einer beklemmend langen Reihe aufgestellt. Von zehn Kerzen spricht die Kanzlerin. Doch es sind zwölf. Die Auflösung liefert sie in ihrer Rede. Sie stellt sie alle in eine Reihe, schenkt jedem einen eigenen Satz: Enver, Abdurrahim, Süleyman, Habil, Mehmet, Ismail, Theodoros, Mehmet, Halit und Michèle, den neun Kleinunternehmern mit Einwanderer-Hintergrund und der 21-jährigen Polizistin, die ebenfalls von den Terroristen ermordet wurde. "Zehn brennende Kerzen — zehn ausgelöschte Leben", sagt Merkel.
Bevor sie weiterredet, bittet sie um ein gemeinsames Schweigen. So wie es knapp zwei Stunden später Millionen andere Menschen in Deutschland auch tun werden. "Mit diesem Schweigen ehren wir die Opfer", sagt Merkel. Und darin bezieht sie auch die vielen anderen Opfer rechtsextremistischer Gewalt ein. Dafür brenne die elfte Kerze. Die Menschenverachtung der rechtsextremistischen Mörder sei letztlich "unbegreiflich", stellt Merkel fest. Trotzdem müssten die Gründe geklärt werden, warum sie so geworden sind. Denn es müsse alles getan werden, dass nicht noch andere junge Männer und Frauen in eine solche Menschenverachtung hineinwüchsen. "Das sind wir den Opfern, das sind wir ihren Angehörigen, das sind wir uns allen schuldig."
"Dafür bitte ich Sie um Verzeihung"
Die Kanzlerin schildert, auch unter dem Eindruck von Gesprächen mit den Hinterbliebenen, unter welcher Qual die Angehörigen viele Jahre standen, wie sie selbst sogar zu Unrecht unter Verdacht gerieten. "Das ist besonders beklemmend", sagt Merkel. Es ist der Anlauf zu einem ganz zentralen Satz der Gedenkfeier: "Dafür bitte ich Sie um Verzeihung." Es ist totenstill im großen Saal. 1200 Menschen spüren, dass hier etwas Außergewöhnliches im Gang ist.
Selbst die wie völlig deplatzierter Dauerbeschuss wirkenden Kamera-Serienauslöser der Pressefotografen schweigen in diesem Augenblick. Merkel versucht mit dem Bild vom "nicht enden wollenden Albtraum" die Gefühle und Erfahrungen der Angehörigen in Worte zu fassen. Und sie versichert ihnen, dass diese Veranstaltung ihnen an diesem Tag auch zeigen soll, nicht länger allein zu sein mit ihrer Trauer. "Wir fühlen mit ihnen." Als Floskel kennt man das von vielen Beileidsbekundungen. Aber Merkel markiert es konzentrierter. Und sie fügt hinzu, was außer ihr keiner sagen kann: "Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen."
"Schande für unser Land"
Das sei wichtig, relativiert Merkel sofort, "aber es würde noch nicht reichen". Vielmehr gehe es darum "alles in den Möglichkeiten des Rechtsstaates Stehende zu tun, damit sich so etwas nie wiederholen kann". Sie spricht von einer Bund-Länder-Kommission, geht dann aber auch auf die Grundfesten des Staates ein, die auf der unantastbaren Menschenwürde beruhten. "Deshalb waren die Morde der Thüringer Terrorzelle auch ein Anschlag auf unser Land - sie sind eine Schande für unser Land."
Ihre Abscheu bringt die Regierungschefin auch in einen Zusammenhang mit dem Video, in dem die Terroristen mit den Taten prahlten und die Opfer verhöhnten: "Etwas Menschenverachtenderes, Perfideres, Infameres habe ich in meiner Arbeit noch nicht gesehen", stellt die Kanzlerin fest.
Und sie räumt Versäumnisse ein: "Es ist ein schlimmer Zustand erreicht, wenn Neonazis junge Menschen mit Kameradschaftsabenden einfangen können, weil niemand sonst sich um diese Jugendlichen kümmert", sagt sie, und appelliert: "Es darf uns nicht ruhen lassen, wenn eine verfassungsfeindliche und rechtsextremistische Partei junge Familien mit Spielen und Festen ködern kann, weil andere das nicht bieten."
Den Staat sieht Merkel mit "seiner ganzen Kraft gefordert". Aber damit allein ließen sich Hass und Gewalt kaum besiegen. Alle Bürger seien als Partner der Sicherheitsbehörden gefragt - und mit einer Einstellung, Mitverantwortung für das Ganze zu zeigen. Das beginne schon bei den Grundlagen, die Kinder bei der Erziehung mitbekämen. "Der Kampf gegen Vorurteile, Verachtung und Ausgrenzung muss täglich geführt werden", fordert die Kanzlerin. Auch bei scheinbar harmlosen Bemerkungen. "Gefährlich sind nicht nur Extremisten — gefährlich sind auch diejenigen, die Vorurteile schüren", sagt Merkel. Und dazu zitiert sie den irischen Denker Edmund Burke: "Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun." An dieser Stelle wiederholt Merkel einen ihrer Lieblingssätze: "Deutschland — das sind wir alle."
Kerze Nummer 12 steht für die Würde des Menschen
Und damit kommt sie auf die zwölfte brennende Kerze wenige Meter neben dem Rednerpult zu sprechen. Sie stehe dafür, dass alle die Würde des Menschen verteidigen, sie sei "das Symbol unserer gemeinsamen Hoffnung und Zuversicht für eine gute Zukunft." Auf Bach folgt Rey, auf den deutschen, der türkische Komponist. Und dann treten Iris Berben und Erol Sander ins Scheinwerferlicht, rezitieren Gedanken von Duranas, Fried, Brecht und Reding. Dessen letztes Zitat endet mit dem Appell: "zusammen leben, damit wir leben."
Leben ist das letzte Wort dieses Teils des Gedenkens an die Toten. Eine klare Ansage. Natürlich sind die Gedanken der Gäste angesichts so vieler Anstöße schon schwer beschäftigt, als nun auch das Gefühl dazu kommt. Das Orchester der Universität der Künste verlässt dafür die Klassik und folgt mit Solistin Sharon Phillips der berühmten Melodie von John Lennon: Imagine — stell Dir vor, es gäbe keinen Himmel. Mit der Illusion einer Welt, in der die Menschen eins wären, in der es nichts gäbe, wofür man morden oder sterben müsste.
Dass die Verfassungsorgane der Bundesrepublik sich hinter dem Lennon-Song versammeln, gibt auch einen bezeichnenden Blick auf dieses Deutschland frei. Ein Staat, der in der Trauer um Neonazi-Opfer auch den Emotionen freien Lauf lässt. Es ist ein Deutschland, in dem die Angehörigen zwar über Jahre verbitterten, das ihnen aber offensichtlich weiter Heimat bleibt.
Dankbar äußert sich Ismail Yozgat über das aktive Angebot der Republik, ihm materielle Entschädigung zu bieten. Aber seine Familie wolle das nicht. Nichts Materielles. Ihr sei "seelischer Beistand" wichtiger. Drei Wünsche hat Yozgat mit auf die Bühne gebracht. Dass die Mörder gefasst und auch deren Hintermänner aufgedeckt werden. Dass die Straße, in der sein Sohn geboren und ermordet wurde, auch nach ihm benannt werden möge. Dass ein Preis ausgelobt und eine Stiftung im Namen der Terroropfer gegründet werde, um anderen zu helfen.
Yozgat denkt in diesem Zusammenhang weit über die Immigranten hinaus. Er will sie krebskranken Menschen zugute kommen lassen. Bei diesen Worten fällt die Zurückhaltung der Gäste. Der erste Beifall des Vormittags kommt auf. Und er gilt wenig später ganz besonders intensiv auch den beiden Opfer-Angehörigen Semiya Simsek aus Nürnberg und Gamze Kubasik aus Dortmund.
Semiya war ein kleines Mädchen, als die Mörder vor zwölf Jahren ihren Vater erschossen und damit die Serie der Morde eröffneten. Sie hat noch genau die Worte ihres Vaters, des Blumenhändlers im Kopf, wenn er von den Schäfchen mit den Glöckchen erzählte.
Elf lange Jahre sei es für ihre Familie nicht möglich gewesen, reinen Gewissens Opfer zu sein. Sie hat ihre Verzweiflung in den letzten Monaten schon vielen Medien geschildert und auch angedeutet, dieses Land verlassen zu wollen, obwohl es doch eigentlich ihr zu Hause sei.
Doch bei der Gedenkfeier klingt sie anders. Ob sie als Konsequenz gehen solle, fragt sie sich erneut. Und sagt, dass dies "keine Lösung" sei. Einfach zu bleiben, sei aber auch keine. Niemand dürfe sich vormachen, es sei schon alles erreicht. Aber zusammen mit Gamze Kubasik ist sie sich einig: "Wir alle gemeinsam, nur das kann die Lösung sein."
Bei diesen Worten greifen die beiden jungen Frauen nach der zwölften Kerze. Nach dem Symbol der Hoffnung. Und tragen sie langsam durch den Saal nach draußen, gefolgt von den anderen Angehörigen und den Spitzen des Staates und begleitet von großem Applaus. Viele haben Tränen in den Augen. Taschentücher werden herausgeholt. Niemand schämt sich der feuchten Augen. Selbst gestandenen Politikern bleibt die Stimme weg. Ein bewegendes Gedenken. Hoffentlich bewegt es was.