Freie Fahrt für 400 Millionen Europäer Merkel: "Ein wahrhaft historischer Moment"

Zittau (RPO). Deutsche und polnische Grenzer öffnen gemeinsam den rot-weißen Schlagbaum, Kinder lassen blaue Luftballons mit dem Europa-Emblem in den Himmel steigen: Für 400 Millionen Europäer gibt es seit Freitag freie Fahrt durch 24 Länder. Bundeskanzlerin Merkel spricht in Zittau von einem "historischen Moment" und merkt an: "Für die Jugendlichen von heute ist das europäische Normalität, wovon ihre Eltern lange geträumt haben." .

Das Ende der Grenzkontrollen
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Das Ende der Grenzkontrollen

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Pünktlich um Mitternacht lässt eine Konfettikanone silberne Schnipsel herabregnen, die Europahymne erklingt, und über der Oder steigt ein fulminantes Feuerwerk in den nächtlich Himmel: Mehrere Tausend Menschen aus Frankfurt und dem angrenzenden polnischen Slubice haben sich bei Minusgraden auf der Frankfurter Stadtbrücke versammelt, um auf den Fall der Grenzkontrollen und den Beitritt Polens zum Schengenraum anzustoßen. Rund 100 Kilometer östlich von Berlin feiern die Menschen ausgelassen, Polen und Deutsche kommen ins Gespräch und prosten sich zu.

Weiter südlich im sächsischen Zittau ist von Jubelstimmung dagegen noch nichts zu spüren. Um Mitternacht versperren weiterhin die weiß-roten Schlagbäume den Weg ins angrenzende polnische Porajów. Die grünen Rollos der Zollhäuschen bleiben heruntergelassen, die Grenze dicht.

Erst neun Stunden später stemmen deutsche und polnische Polizisten eine Schranke hoch. Kinder lassen blaue Luftballons mit dem Europa-Emblem aufsteigen, und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) erklärt feierlich: "Wir haben jetzt ein Europa, wo Passkontrollen von Schweden bis nach Italien und von Portugal bis zum Baltikum nicht mehr stattfinden."

Nur wenig Applaus

Die Kanzlerin bekommt allerdings nur wenig Applaus von den rund 300 Zaungästen. Bei nicht wenigen Zittauern ist die Stimmung eher verhalten. "Die Unsicherheit wächst", fürchtet Gudrun Richter.

Die 74-jährige Zittauerin beobachtet mit Skepsis die Feststunde, an der neben Merkel auch viel politische Prominenz, die Regierungschefs von Polen und Tschechien, Donald Tusk und Mirek Topolanek, sowie EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso teilnehmen. Zittau mit seinen 22.000 Einwohnern liegt im Dreiländereck zwischen Deutschland, Polen und Tschechien. "Die Politiker haben gut reden", sagt Richter. "Die fahren gleich wieder weg, aber wir haben neue Sicherheitsängste." Vor allem die älteren Zittauer befürchten eine Zunahme der Kriminalität.

Mit dem Beitritt von Polen und Tschechien sowie sieben weiteren EU-Staaten zum Schengen-Raum sind seit Freitag an knapp 20 deutsch-polnischen und gut 30 deutsch-tschechischen Grenzübergängen die Pass- und Zollkontrollen Vergangenheit. Deutsche, Polen und Tschechen können ungehindert ins Nachbarland fahren.

"Das bewegt mich doch sehr"

Was in Zittau zum Teil diffuse Ängste auslöst, wird in der Universitätsstadt Frankfurt bejubelt. Der 53-jährige Gottfried aus Berlin ist mit dem Regionalexpress angereist und erinnert sich an die Zeiten, als die DDR nach dem Erstarken der polnischen Demokratiebewegung die Grenzen zum "Bruderstaat" hermetisch abriegelte. "Das bewegt mich doch sehr", sagt er. Für die 19-jährige Schülerin Sara ist die Grenzöffnung "schon cool". Längst stammt ihr Freundeskreis bunt gemischt aus Frankfurt und Slubice.

Drei weißrussische Studentinnen aus Frankfurt lassen auf der Brücke die Sektkorken knallen, denn ab jetzt können sie erstmals ohne Visum problemlos nach Polen fahren. "Die Leute feiern, und es ist toll", freut sich die 24-jährige Marina mit einem breiten Lächeln. "Sie können frei Reisen und das ist einfach besser." Die mit einer dicken Jacke bekleidete 22-jährige Polin Martha findet, dass die Polen nun "mehr von der Europäischen Union profitieren und mehr am europäischen Leben teilnehmen können". Auch die Zeiten, als Handwerker lange Wartezeiten und Zollkontrollen einplanen mussten, seien nunmehr endgültig vorbei.

"Ich bin sehr froh, diesen Tag miterleben zu können", sagt auch ein deutscher Bundespolizist in Zittau. Mehr als zehn Jahre hütete er die Grenze. Von nun an wird er Streife fahren. "Im grenznahen Hinterland", wie er sagt. Die überdachten und beleuchteten Grenzübergänge hätten eine zentrale Kontrolle ermöglicht. Nun muss er zusammen mit polnischen Kollegen ein weitaus größeres Gebiet mit Autos und Nachtsichtgeräten überwachen. "Deshalb arbeiten jetzt alle Länder viel enger zusammen als früher."

Alte Schlagbäume werden in Polen versteigert

Nach Polens Beitritt zum Schengenraum sollen ausgediente Schlagbäume und Grenzschilder zu wohltätigen Zwecken versteigert werden. Die Einnahmen aus der Auktion sollten Flüchtlingen zugute kommen, meldete die Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" in ihrer Internetausgabe. Neben Teilen von Schlagbäumen sollen vor allem Schilder mit Aufschriften wie "Staatsgrenze - Durchfahrt verboten", "Fotografieren verboten" oder "Der Kommandeur der Grenztruppen nimmt Beschwerden montags von 13.00 bis 17.00 Uhr entgegen" unter den Hammer kommen.

Die Versteigerung der rund 30 Gegenstände soll vom 27. bis 31. Dezember auf der größten polnischen Internet-Auktionsseite allegro. pl stattfinden. Die Einnahmen sollen Stipendien für Flüchtlingskinder in Polen finanzieren. In diesem Jahr ersuchten 7000 Flüchtlinge in dem osteuropäischen Land um Asyl, 90 Prozent davon waren Tschetschenen.

(ap)
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