Ein Gastbeitrag von Franz Walter "Mehr Protest im Bundestag"

Berlin (RP). Wer dagegen ist, ist interessant. Abweichler und Streitlustige in den Parteien erzeugen mediale Aufmerksamkeit. Für den Politologen Franz Walter ist das keine schlechte Entwicklung. Mehr davon, fordert er in einem Gastbeitrag für unsere Redaktion.

 Franz Walter ist Professor an der Universität Göttingen.

Franz Walter ist Professor an der Universität Göttingen.

Foto: Uni Göttingen

"Abweichler sind in ihren Fraktionen und Parteien denkbar unbeliebt. Die Tage vor der Abstimmung gleichen einen veritabeln Spießrutenlaufen. Dass die Granden die 'Fresse' der 'Verräter' nicht mehr sehen mögen, dürfte wohl eher die Regel als die Ausnahme sein und ziemlich fraktionsübergreifend ausfallen. Die Aufmerksamkeit der Medien hingegen erringt man nicht durch Einpassung und unauffälliges Mannschaftsspiel.

Die Medienwahrnehmung kommt dem Solitär, dem Häretiker zu. Das Ausscheren sichert Schlagzeilen und Beachtung. Die Kameras richten sich lieber auf Gauweiler als auf Ramsauer. Nur: Die Dosis des Abweiches ist unaufhörlich zu erhöhen, denn die Öffentlichkeit wendet sich desinteressiert ab, sobald der Opponent seine Häresien nicht weiter treibt. Die Befriedigung, über Öffentlichkeit Resonanz zu erzielen, kann eine innere, irgendwann schwer zu steuernde, dann auch destruktive Dynamik gewinnen.

Und auch das ist richtig: Dies kann zu Lasten der rationalen Arbeit einer Partei- und Parlamentsfraktion gehen. Parteien und Fraktionen sind angewiesen auf Schlagkraft. Auch auf Disziplin. Schließlich auf Solidarität. Fraktionen und Parteien sind wie Mannschaften, sind Gemeinschaften mit dem Ziel, mittels politischer Macht verabredete politische Anliegen durchzusetzen. Als ständige Ansammlung durchweg selbstzentrierte Individuen kann sie das nicht. Eine solche Ansammlung wäre eine Ego-Palaver-Veranstaltung, wie es der Präsident des Deutschen Bundestages, der Christdemokrat Norbert Lammert, früher einmal genannt hat.

Der simulierte Parlamentarismus

Der jeweilige Politiker wie Abgeordnete braucht die anderen aus seiner politischen Gesinnungsgemeinschaft, um seine Positionen mehrheitsfähig zu bekommen. Er benötigt ihre Kooperation, muss daher in anderen Fällen Unterstützung zurückgeben — auch wenn es mitunter beschwerlich ist. Andererseits aber: Die ursprünglichen Vordenker des Parlamentarismus setzten durchaus auf den freien Individualisten, der im offenen Diskurs mit anderen ebenso freien Repräsentanten des Volks um die vernünftige Lösung ringt.

Und so wird es im Bundestag immer ja auch vorgespielt. So wird es im Sozialkundeunterricht in den bundesdeutschen Ausbildungsstätten den Schülern weiterhin überwiegend gelehrt. Es ist die Ursache aller Politikverdrossenheit, dass man so liberalen auf den verschiedensten Ebenen Parlamentarismus simuliert, dass man dort aber, wo er stattfinden sollte, nicht ernsthaft an seine Substanz und Effizienz mehr glaubt.

Die realen Manager des simulierten Parlamentarismus ächten infolgedessen den Abweichler, sie sich politische Willensbildung in modernen und komplexen Gesellschaften eben nur im disziplinierten Kollektiv verlässlich strukturierter Fraktionen vorstellen können. Die 'Realisten' und 'Pragmatiker' der Fraktionsadministration pflegen sich daher über die Norm der 'Idealisten des Parlamentarismus' aus dem frühliberalen 19. Jahrhundert zu mokieren.

Die entzogene Verhandlungsdemokratie

Aber — und darin liegt ihr Crux: Sie haben selbst eine eigene, neue und überzeugende Norm eine dem Plenarsaal entzogenen Verhandlungsdemokratie nie zu kreieren vermocht. So steckt in den Köpfen der allermeisten Bürger nach wie vor der Maßstab der 'Idealisten' eines reinen, transparenten, ergebnisoffenen parlamentarischen Diskurses. Und deshalb erscheint ihnen die Praxis der 'Realisten' immer wieder als Verstoß wider die Demokratie.

Auch hier gilt wie fast überall derzeit in der Politik: Den Pragmatiker fehlt eine Begründung ihres Tuns. Und daher verliert der vermeintliche politische Pragmatismus in der ja durchaus hochpragmatischen deutschen Gesellschaft seit Monaten schon an Zustimmung und Plausibilität. Denn es fehlt ihm das geistige Fundament, ein erklärender Kern und ein einleuchtendes Ziel. Insofern könnte ein bisschen mehr an frühliberaler offener Kontroverse über die großen Streifragen der Nation auch im Deutschen Bundestag wirklich nicht schaden.

Der Autor ist Professor für Politische Wissenschaften an der Universität Göttingen.

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