Medikamentenkrise in Deutschland Hausärzte rechnen vorerst kaum mit besserer Arzneimittel-Versorgung

Exklusiv | Berlin · Der Weltärzte-Chef glaubt nicht, dass die kurzfristigen Maßnahmen des Bundesgesundheitsministers zur Linderung der Medikamentenkrise wirken werden. Die Hausärzte rechnen kurzfristig kaum mit einer Linderung der Arzneimittelkrise.

Frank Ulrich Montgomery ist Vorsitzender des Weltärztebundes.

Frank Ulrich Montgomery ist Vorsitzender des Weltärztebundes.

Foto: dpa/Guido Kirchner

Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery bezweifelt, dass die jüngsten Pläne von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zur Bekämpfung der Medikamentenkrise helfen werden. „Ob wir kurzfristig durch Aufhebung der Rabattvorgaben und höhere Preise allein zu einer schnellen Auflösung der gegenwärtigen Probleme kommen, darf bezweifelt werden“, sagte Montgomery unserer Redaktion. „Die Medikamente wurden nicht mehr produziert – oder nur noch von einer oder zwei Firmen auf der Welt, in Indien oder China, hergestellt. Es lohnt nicht mehr, die Grundstoffe herzustellen. In vielen Ländern Europas ist das so. Und das kann man nicht auf einen Schlag ändern“, sagte der Präsident des Weltärztebundes.

Gesundheitsminister Lauterbach will die Versorgung mit Kinderarzneimitteln verbessern, indem die Krankenkassen ab sofort mehr für solche Medikamente bezahlen. Damit soll auf die derzeitigen Lieferengpässe reagiert werden, wie der SPD-Politiker am Dienstagmorgen im ARD-„Morgenmagazin“ erläuterte: „Wir müssen diese Arzneimittel für Kinder aus den Festbeträgen herausnehmen, sodass die auch teurer verkauft werden. Da werde ich heute auch schon reagieren, dass die Krankenkassen angewiesen werden, 50 Prozent mehr zu zahlen als diesen Festbetrag“, sagte Lauterbach.

Patentgeschützte Medikamente seien in Deutschland eher teuer, erklärte Lauterbach. Für Arzneimittel ohne Patentschutz würden jedoch in der Regel niedrige Einheitspreise gezahlt, sogenannte Festbeträge. Deutschland sei für Hersteller kein attraktiver Markt, was dazu führe, dass stark gefragte Mittel eher in anderen Ländern wie den Niederlanden verkauft würden. „Da müssen die Preise sofort angehoben werden, das machen wir mit heutiger Wirkung, so Lauterbach.

„Produktionsketten sind kompliziert, Qualität und Reinheit der Medikamente müssen stimmen. Deswegen ist zu bezweifeln, dass die sofortige Aufhebung der Rabattvorschriften schnell zu einer Verbesserung der Situation führt“, entgegnete Montgomery. Er warf Lauterbach massive Versäumnisse vor. „Das sind die Folgen der von Herrn Lauterbach mit vertretenen Überökonomisierung im Gesundheitswesen. Darauf haben wir Ärzte weltweit immer hingewiesen. Die Patienten leiden schon seit Längerem - jetzt kommt die Einsicht beim Minister…. spät, hoffentlich nicht zu spät“, sagte Montgomery.

„Es ist sicher richtig, alles denkbar Mögliche zu tun, um die Versorgung mit Arzneimitteln zu gewährleisten. Ob das hilft, darf angezweifelt werden. Schon seit Jahren weisen Bundesärztekammer, Weltärztebund und die Europäischen Ärzte auf die Lieferlücken und -engpässe hin“, sagte er. „Wir haben nationale (oder europaweite) Bevorratung, stabile Verträge zu Produktion und Lieferung und den Aufbau eigener Produktionskapazitäten vorgeschlagen. Passiert ist: Nichts! Gerade der heutige Bundesgesundheitsminister hat als Politiker immer der Ökonomie den Vorzug gegeben. Rabattverträge, Generika, Medikamentensubstitution hießen die Schlagworte. Jetzt haben wir den Schlamassel.“

Auch die Hausärzte rechnen zunächst kaum mit einer baldigen Verbesserung bei der Medikamentenversorgung durch die jüngsten Gesetzespläne von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). „Die jetzt diskutierten Maßnahmen werden in der hausärztlichen Versorgung kurzfristig nur bedingt helfen“, sagte Nicola Buhlinger-Göpfarth, stellvertretende Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbandes, unserer Redaktion. „Es muss davon ausgegangen werden, dass wir Hausärztinnen und Hausärzte mit dem Thema in den kommenden Wochen und Monaten weiter zu kämpfen haben werden“, sagte sie. „Die Lieferengpässe sind in den Hausarztpraxen sehr deutlich zu spüren. Die Hausärztinnen und Hausärzte müssen inzwischen sehr viel Zeit investieren, um, sofern dies überhaupt möglich ist, Medikationen umzustellen. Gerade in der derzeitig sehr starken Krankheitswelle, die die Hausärztinnen und ihre Hausärzte extrem fordert, ist das eine enorme zusätzliche Belastung. Hinzu kommt: In manchen Fällen gibt es aber schlichtweg keine Alternativen. Das ist dann für die Betroffenen natürlich besonders dramatisch.“

Ärztepräsident Klaus Reinhardt forderte Bundesgesundheitsminister Lauterbach auf, höhere Preise nur für wirklich versorgungsrelevante Kindermedikamente zuzulassen. „Die Ankündigung von Bundesgesundheitsminister Lauterbach, die Preisvorgaben für Kinderarzneimittel zu lockern, ist grundsätzlich richtig“, sagte Reinhardt unserer Redaktion. „Um die Versorgung mit Medikamenten zu gewährleisten, sind entsprechende wirtschaftliche Anreize notwendig. Allerdings geht es hier nicht um hohe Gewinne für die Medikamenten-Hersteller, sondern um die Gesundheit unserer Kinder. Daher müssen die Anreize auf wirklich versorgungsrelevante Arzneimittel beschränkt bleiben“, mahnte der Präsident der Bundesärztekammer.

„Ein weiteres Problem besteht darin, dass viele Wirkstoffe und Medikamente inzwischen fast ausschließlich in Drittstaaten wie Indien oder China produziert werden – und das häufig nur an einigen wenigen Standorten“, sagte der Mediziner. „Das führt zu Problemen bei der Versorgungssicherheit, da wir bei Qualitätsmängeln oder Lieferproblemen nicht auf andere Hersteller ausweichen können. Europa muss in der Lage sein, zumindest einen Teil seines Medikamentenbedarfs aus eigener Kraft zu decken“, forderte Reinhardt.

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