„Maybrit Illner spezial“ Nicht auf Krawall gebürstet - junge Gäste zeigen, wie TV-Talk laufen kann

Berlin · Wenn Talkshow-Gäste nicht wegen ihres Krawall-Faktors ausgewählt werden, sondern einfach den Hintergründen des Wahldesasters für Union und SPD nachspüren sollen, kann Erstaunliches passieren: Die Gäste lassen sich ausreden.

 Maybrit Illner mit ihren Gästen am Donnerstagabend.

Maybrit Illner mit ihren Gästen am Donnerstagabend.

Foto: zDF/ZDF

Hieße der CDU-Generalsekretär gerade nicht Paul Ziemiak (33), sondern (wie schon mal für sieben Monate im Jahr 2000) Ruprecht Polenz (73), dann hätte der Youtuber Rezo mit seinem Video an zentraler Stelle der von ihm attackierten Partei einen besonderen Anhänger. Er finde dessen zentrale Botschaften „richtig“, sagte der vor sechs Jahren aus dem Bundestag ausgeschiedene CDU-Politiker am Donnerstagabend bei Maybrit Illner. Polenz kommt auf beachtliche 10.000 Twitter-Follower und pflegt sie auch intensiv. Und so empfahl er in der Sendung zur Aufarbeitung des Groko-Wahldesasters allen aktiven Kollegen seiner Partei, jeden Tag mindestens eine Stunde in den sozialen Netzwerken mit zu diskutieren.

Die Polenz-Strategie aus grundsätzlicher Zustimmung und Ergänzungen im Detail schließt Widerspruch nicht aus. So warnte er einerseits vor der Meinung, Klimaschutz sei ein Thema der Jugend. Für Ältere sei das genau so wichtig. Aber es gebe nicht nur ein existenzielles Thema. In früheren Jahren sei es die Angst vor einem Atomkrieg gewesen, und wenn er sich die Entwicklung rund um den Iran gerade so anschaue, dann könne das „schnell wiederkommen“, meinte der frühere Außenexperte der Union.

Die Gäste waren geschickt ausgewählt. Die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission, Gesine Schwan (76) widersprach Polenz sogleich und meinte, man komme mit jungen Leuten auch in Kontakt, wenn man nicht im Internet unterwegs sei - und verwies auf den Besuch einer Schule. Nach dem kleinen Gespräch bat Illner die Senioren an den Tisch der Jüngeren: Carla Reemtsma (20) von der Fridays-for-Future-Bewegung saß da neben der bayerischen SPD-Vizechefin Johanna Uekermann (31), der Social-Media-Profi Florian Diedrich (31), besser bekannt als „LeFloid“, neben der Unternehmerin und CDU-Frau Diana Kinnert (28). Sie alle verblüfften das Talk-Publikum mit der verblüffenden Möglichkeit, sich zuhören, ausreden und respektvoll behandeln zu können.

Schnell waren sich alle einig, dass die Reaktion von CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer auf den Aufruf von 70 Youtubern zur Nichtwahl der Union falsch gewesen sei. Diedrich nannte es eine „absolute Katastrophe“, als Konsequenz eine angebliche Meinungsmacht der sozialen Medien regeln zu wollen. Er räumte auch mit der Vorstellung auf, dass zehn Millionen Klicks mit zehn Millionen Menschen gleichzusetzen seien, die das Rezo-Video auch tatsächlich gesehen hätten. Gleichzeitig war er überzeugt davon, dass „gekaufte Meinungen“ angesichts des engen Korsetts für Youtuber transparent seien. Die Absender würden eindeutig gekennzeichnet.

Natürlich wollte Illner von den beiden Parteifrauen wissen, ob ihre jeweilige Vorsitzende noch die richtige sei. „Supergenervt“ zeigte sich Uekermann über die laufenden Personaldebatten in der SPD. Dem hielt sie entgegen, dass bei den Klimaprotesten viele Forderungen auf Schildern gestanden hätte, aber auf keinem habe der Austausch der Parteichefs gestanden. Ein Ausweichmanöver also. Ähnlich ging Kinnert von der CDU damit um: Sie wünsche sich, dass Kramp-Karrenbauer „aus ihren Fehlern lernt“.

Für den Lernfortschritte steuerte sie jedenfalls schon mal einiges bei. Glaubwürdigkeit gewinne ihre Partei nicht durch eine Änderung der Kommunikation, sondern durch einen anderen Kurs. Sie spüre, dass das Wahldebakel den liberalen und jungen Leuten in der CDU den Rücken gestärkt habe. Und sie führte vor Augen, wie klein die Volksparteien in Wirklichkeit seien. Die CDU habe 500.000 Mitglieder, aber allein bei den Abschlusskundgebungen von Fridays for Future seien 320.000 Menschen gewesen. Sie schlug zudem vor, die politischen und administrativen Strukturen zu transformieren. Das deutsche Politiksystem sei vor 70 Jahren „gebaut“, aber „nie richtig reformiert“ worden.

Beim Infragestellen war auch Klimaprotest-Organisatorin Reemtsma dabei. Für sie steht da etwa die „Wachstumsdoktrin“ im Raum. Nach ihren Erfahrungen mit den Reaktionen auf die Schulstreiks schafften es jedenfalls „die“ Parteien nicht, die Themen aufzugreifen, die für „die“ Leute wichtig seien.

Und was meinten die Journalisten zu den Folgen des Groko-Desasters? Claudia Kade (48) von der „Welt“ sagte voraus, dass die SPD sich „pulverisieren“ werde, wenn sie so weitermache. Und Ulrich Jörges (67) vom „Stern“ riet der SPD, es könne ihr nur gut tun, wenn sie in die Opposition gehe und dann der Linken ein Fusionsangebot mache. Er nannte es zudem „gut vorstellbar“, dass nach einem Bruch der Koalition bei den nachfolgenden Neuwahlen gar nicht Kramp-Karrenbauer Kanzlerkandidatin werde. Auch NRW-Regierungschef Armin Laschet laufe sich warm.

Das Fazit: Eine Sendung ohne Wut, aber mit viel Perspektive. So auch zum Schluss, als Illner auf die beiden Wahlgewinner, die Grünen im Westen und die AfD im Osten, zu sprechen kam. Da berichtete „LeFloid“, dass er mit Frau und Kindern gerade nach Brandenburg gezogen sei und ihn diese Ost-West, alte-Länder-neue-Länder-Erzählungen nicht überzeugten: „Ich hoffe, dass sich das in 20 Jahren erledigt hat.“

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