Interview: Annette Schavan zur "Unterschicht-Debatte" Lektion für Kinder: Streng Dich an

Düsseldorf (rpo). Der Staat allein kann Menschen nicht aus der Armutsfalle herausholen, meint Bundesbildungsministerin Annette Schavan. Im Interview mit der Rheinischen Post fordert sie einen Mentalitätswechsel. Eltern müssten ihren Kindern auch sagen: Nimm deine Chancen wahr, streng dich an.

Waren Sie schon einmal in Duisburg- Marxloh oder in Neukölln? Ihr Kabinettskollege Schäuble hat Neukölln einmal mit der Bronx verglichen ...

Schavan Ich war schon in Neukölln, und ich war in meiner zehnjährigen Zeit als Kultusministerin in vielen Schulen, die mitten in sozialen Brennpunkten arbeiten. Deshalb weiß ich, wie viel Mühe vor Ort nötig ist, um die Familien zu erreichen und aus ihrer Perspektivlosigkeit herauszuholen.

Können Sie mit dem Begriff "Unterschicht" etwas anfangen?

Schavan Der Begriff ist für die öffentliche Diskussion völlig untauglich. Unsere Gesellschaft verstehe ich nicht als etwas, was in Schichten aufgebaut ist. Sie hat vielmehr sehr unterschiedliche Milieus.

Ist die soziale Verwahrlosung einiger Gruppen für Sie nicht ebenso alarmierend, als müsste ein Verkehrsminister feststellen, dass sein Land nicht motorisiert ist?

Schavan Dass sich Nichtteilhabe über Generationen verfestigt, ist ein sehr bedenkliches Phänomen. Es ist inakzeptabel, wenn Kindern und Jugendlichen von ihren Eltern nicht gesagt wird "Streng dich an", "Nimm deine Chancen wahr". Vielmehr bekommen einige Kinder den Eindruck, dass sie chancenlos blieben. Das Gute ist: Wir stehen nicht am Anfang der Diskussion. Die Weichen sind längst gestellt. Ich nenne nur ein paar Stichwörter: Stärkung der frühkindlichen Bildung, Förderung des Spracherwerbs vor der Schule, mehr ganztätige Angebote in den Schulen. Es ist gut, dass Bildungs-, Familien- und Sozialpolitiker sehr viel enger zusammenrücken. Wir brauchen aber auch einen Mentalitätswandel, der mit staatlichen Vorgaben allein nicht erreicht werden kann.

Welche Signale sollte eine Partei, die das C" im Namen führt, geben?

Schavan Jürgen Rüttgers hat schon vor vielen Jahren das Richtige gesagt: Bildung ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts. Die CDU hat mit ihrer Politik dafür gesorgt, dass Bildung - etwa in der Landespolitik- einen hohen Stellenwert hat. Es wird auch in unserem Grundsatzprogramm deutlich werden: Bildung ist ein Schlüssel für Lebenschancen. Deshalb ist der Zugang zu Bildung die soziale Aufgabe des 21. Jahrhunderts und die zentrale Frage von Gerechtigkeit.

Der Kabarettist Schmidt spricht von "Unterschichten-Fernsehen"...

Schavan Ich benutze den Begriff "Unterschicht" nicht ...

Aber Sie ahnen, was er meint? Sind TV-Shows, in denen soziale Desaster als Helden-Epen verkauft werden, nicht ein pädagogischer Bankrott?

Schavan Von den vielen Bildschirm-Stunden, die Kinder und Jugendliche heute erleben, trägt vieles massiv bei zu Orientierungslosigkeit, Verwirrung und innerer Unruhe. Eine rein theoretische Diskussion über Medienpädagogik erreicht viele Betroffene nicht. Es geht vor allem um praktische Anstöße. Viele Schulen zeigen schon, oft mit außerschulischen Partnern, wie es geht: Mit phantasievollen Angeboten am Nachmittag wird Kindern ein Zugang zu einer anderen Gestaltung des Tages eröffnet. Die Kinder müssen für etwas anderes fasziniert werden als für das, was sie durcheinanderbringt.

CDU-Generalsekretär Pofalla sieht bei dem Problem eine Mitschuld bei Rot-Grün.

Schavan Er bezieht sich auf die Armutsberichte, die von der Bundesregierung regelmäßig herausgegeben werden. Da geht es nicht um eine CDU-Position, sondern das sind Fakten. Aber entscheidend ist, das, was jetzt diskutiert wird, als bleibende Aufgabe der Politik zu sehen. Es geht darum, Teilhabe an der Gesellschaft zu verwirklichen.

Muss man nicht dankbar sein für den Begriff "Unterschicht", weil man nun soziale Spaltung klarer wahrnimmt?

Schavan Noch liegt die Studie, die diese Debatte ausgelöst hat, ja nicht vollständig vor. Klar ist: Es hat schon immer zum Grundauftrag der Politik gehört, dafür Sorge zu tragen, dass eine Gesellschaft nicht auseinanderfällt.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort