Analyse Mehr Macht den Metropolen

Düsseldorf · Die Bürgermeisterwahl in Istanbul hat das wachsende Selbstbewusstsein von Großstädten demonstriert. Experten halten Metropolen für tauglicher als Nationen, um auf die Herausforderungen der Globalisierung zu reagieren. Städte könnten Bewahrer der Demokratie werden.

 Blick auf die 8-Millionen-Einwohner-Stadt New York.

Blick auf die 8-Millionen-Einwohner-Stadt New York.

Foto: dpa/Mark Lennihan

Vielleicht wird die Welt einmal von einem Parlament der Städte regiert. Jedenfalls wächst die politische Bedeutung der Metropolen schon jetzt. Auch deswegen ist die jüngste Bürgermeisterwahl in Istanbul bemerkenswert: Die Bürger der türkischen 15-Millionen-Einwohner-Stadt haben sich mit demokratischen Mitteln gegen die autoritäre Führung ihres Landes gewandt. Gezwungenermaßen, aber überdeutlich. Eine Großstadt hat sich selbstbewusst für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und gegen Vetternwirtschaft ausgesprochen – gegen die Eliten des eigenen Landes. Und ihre Bürgerschaft hat einen lokalen Bürgermeisterkandidaten in kurzer Zeit zum mächtigen Gegenspieler des Staatspräsidenten gemacht. Was auch immer aus diesem Anfang wird: Eine Stadt ist vorangegangen, eine Metropole hat sich artikuliert und könnte die Geschicke eines Staates verändern.

Städte sind älter als Nationen, sie haben viele Jahrhunderte und wechselnde politische Machtverhältnisse überdauert. Wie der Soziologe Max Weber gezeigt hat, haben Menschen in Städten begonnen, unabhängig von alten Verbänden wie Sippe und Feudalordnung ihr Zusammenleben zu organisieren. In Städten haben sie sich zu Bürgerschaften formiert, haben begonnen, ihren täglichen Bedarf über Marktwirtschaft zu befriedigen und den langen Prozess der politischen Selbstverwaltung zu organisieren. Städte sind Sammelpunkte und gleichzeitig Orte des Transits. In ihnen herrscht Vielfalt. Neue Lebensmodelle, Wohnkonzepte, politische Haltungen werden dort ausprobiert. Das sorgt für Spannungen. Aber es macht Großstädte eben auch zu politisch relevanten Organismen mit großem kreativen und innovativen Potenzial.

Das lässt manche Experten hoffen, dass gerade in Städten Lösungen für globale Probleme wie Klimawandel, Migration, Terror, Mobilität gefunden werden. Denn in Städten werfen diese Themen konkrete Fragen auf und zwingen die lokalen Politiker zu konkretem Handeln. Darum werden in Städten keine Klimaresolutionen verfasst, sondern Dächer begrünt. Darum wird in Mobilitätsfragen nicht an die Autoindustrie appelliert, sondern die Städte bauen Fahrradschnellwege, erlauben Leihräder, investieren in Elektrobusse. Städte haben Nationalstaaten ihren Pragmatismus voraus. Sie werden von Politikern regiert, die sich vor Ort auskennen, sich verantwortlich fühlen, sich an ihrem konkreten Handeln messen lassen müssen. Menschen, für die ihre Stadt Heimat ist.

Darum sah der 2017 gestorbene Politikwissenschaftler Benjamin Barber ausgerechnet in der lokalen Struktur der Städte eine Chance, mit demokratischen Mitteln auf die Herausforderungen der Globalisierung zu reagieren. Die Demokratie sei in der Polis geboren worden, nun müsse sie in der globalen Kosmopolis wiedergeboren werden, hat er mal gesagt und sich für die Gründung eines „Global Parliament of Mayors“, eines internationalen Parlaments der Bürgermeister eingesetzt. Er sah in Bürgermeistern lokal verortete Pragmatiker, die zu konkretem Handeln verdammt sind. Keine ideologischen Strategen also, sondern Problemlöser. Sie wollte er vernetzen und ihren Einfluss in der Welt stärken, weil er das für den besten Weg hielt, Demokratie zu globalisieren und Globalisierung zu demokratisieren.

Noch haben Zusammenschlüsse wie das „Global Parliament of Mayors“ wenig Gestaltungsmacht. Noch sind sie Netzwerke, in denen Städte sich – auch darin pragmatisch – über ihren Umgang mit Fragen der Mobilität, der Sicherheit oder des Klimawandels austauschen. Doch gerade in Krisensituationen treten Städte inzwischen auch als Akteure auf und gehen, wenn nötig, in Opposition zu den Nationalstaaten, zu denen sie gehören. Etwa als US-Präsident Donald Trump den Austritt der USA aus dem Pariser Klimaschutzabkommen verkündete, die Bürgermeister vieler amerikanischer Metropolen jedoch erklärten, sich freiwillig an die Klimaziele zu halten. Sie müssen ja auch zurecht kommen mit der schlechten Luft oder mit dem ansteigenden Meeresspiegel. Die meisten Metropolen der Welt liegen am Wasser.

Auch in Deutschland sind es Städte wie Konstanz, Münster, sogar Tönisvorst, die den Klimanotstand ausgerufen haben. Sie haben sich selbst verordnet, bei Entscheidungen künftig immer auch die Klimawirkung zu betrachten. Die Städte gehen voran.

Was bedeutet das aber für Menschen, die nicht in Metropolen leben? Auch in Deutschland ist ja längst ein Verdrängungskampf in Gang. Steigen die Mieten in den Ballungszentren weiter, wird dort bald nur noch eine wohlhabende Elite leben. Wenn der politische Einfluss von Metropolen wächst, könnte das indirekt die Demokratie unterwandern.

Doch durch die Digitalisierung sind zumindest in Europa ländliche Regionen nicht mehr zwangsläufig abgehängt. „Wir beobachten eher eine Verschmelzung von ländlichem und urbanem Raum“, sagt der Zukunftsforscher Daniel Dettling, Leiter des Berliner Zukunftsinstituts. „Die nächste Stufe der Globalisierung ist die Glokalisierung, das heißt die Themen der Metropolen erreichen den ländlichen Raum, und die Städte denken ländlicher.“ Auf dem Land sei die Bevölkerung homogener, die Menschen kennten einander, seien pragmatischer. „In der Kleinstadt wird vielleicht nicht gegen Klimawandel demonstriert“, so Dettling. „Dafür wird dort oft nachhaltiger gelebt: Bauern stellen auf ökologische Landwirtschaft um und verändern das Angebot für die Konsumenten.“ Städte seien die Agenten des Wandels, den das Land dann lebt.

Glokales Denken bedeutet, Probleme nicht abstrakt zu wälzen, sondern ihre regionalen Auswirkungen zu betrachten und die Folgen konkret anzugehen. Wenn Bürgermeister mehr Einfluss gewinnen, könnte das der Welt guttun.

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