Nach der Landtagswahl in Thüringen Auf die Köpfe kommt es an

Berlin · Ein christlicher Wessi erobert für die Linke den Osten. Die Landtagswahl in Thüringen zeigt wieder: Menschen orientieren sich oft mehr an Personen als an Parteien. Angela Merkel hätte auch die SPD führen können

 Bodo Ramelow. (Archiv)

Bodo Ramelow. (Archiv)

Foto: dpa/Christoph Soeder

Bodo Ramelow kann seine Arme weit ausbreiten. Sehr weit. Auf der einen Seite greift er nach Genossen, Gewerkschaftsmitgliedern, Gleichgesinnten, auf der anderen nach Konservativen, Unternehmern, Kritikern. Er kann zuhören, trösten, streiten. Er geht in die Kirche und umarmt die Welt. Das hat ihn zum beliebtesten Politiker Thüringens gemacht, zum Wahlsieger und zum Star der Linken. Ein Wessi im Osten. Niemand vor ihm hat die Partei, die aus PDS und SED hervorgegangen ist, zur stärksten Kraft in einem Bundesland gemacht, den Regierungschef gestellt und diesen Thron erfolgreich verteidigt.

Ramelow steht in der Reihe jener Ministerpräsidenten, die nicht an ihrer Partei gemessen werden, sondern an ihren Worten und Taten, und die umgekehrt ihre Partei nicht über das Land stellen. Sie geben sich als Landesväter. Für möglichst viele Menschen. Und denen ist oft gar nicht wichtig, dass Ramelow bei den Linken ist oder Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei den Grünen oder Schleswig-Holsteins Regierungschef Daniel Günther bei der CDU. Und manch einer kann auch durcheinander kommen, wenn Günther für Windräder kämpft, Kretschmann für die Autoindustrie und Ramelow Debatten über Wohnungs-Enteignungen als völlig überflüssig geißelt.

Diese Männer haben ungewöhnliche Koalitionskonstellationen zustande gebracht – und gehalten. Dunkelrot-Rot-Grün im früheren CDU-Land Thüringen, Grün-Schwarz  im CDU-Stammland Baden-Württemberg, Schwarz-Grün-Gelb im zuvor SPD-regierten Schleswig-Holstein. Und dann ist da auch noch der Christdemokrat Volker Bouffier, der sich als hessischer Innenminister unter dem konservativen Roland Koch den Ruf des „schwarzer Sheriffs“ erwarb und einige Jahre später die erste schwarz-grüne Koalition in einem Flächenland bildete. Trotz der bunten Zusammensetzungen mit großem Konfliktpotenzial arbeiten diese Landesregierungen recht ruhig vor sich hin. Es kommt auf die Persönlichkeit an, auf das Herz und den Kopf.

Es gibt eine schöne Geschichte aus dem Bundestagswahlkampf 2013. Bei einer Straßenumfrage wurden Bürger gefragt, wie sie Merkel beurteilen. Eine Frau schwärmte von Merkels Gelassenheit, ihrer sozialen Kompetenz, ihrem internationalen Einfluss. Und dann sagte sie, Merkel sei eben eine gute „SPD“-Vorsitzende. SPD? Die Wählerin hatte nicht mitbekommen, dass Merkel CDU-Chefin war. Es war ihr aber offensichtlich auch egal. Es war der Mensch, der sie beeindruckte. 2013 brachte Merkel ihre Partei über die 40-Prozent-Marke.

Globalisierung, Digitalisierung, Beschleunigung – in Zeiten wie diesen sind die Regierenden besonders gefordert, den Bürgern Halt und Orientierung zu geben, und Stärke und Souveränität zu vermitteln. Sie müssen für Sicherheit sorgen, die beim Verhindern von Wohnungseinbrüchen beginnt und bei der Terrorabwehr endet. Sie müssen die Wirtschaft stärken und dürfen sie nicht schwächen. All das müssen sie machen, gleich, in welcher Partei sie sind. Das von der Union jahrelang an die Wand gemalte grüne und rote Gespenst, das die Unternehmen gängele und schwäche, schreckt niemanden mehr. Baden-Württemberg hat die zweitniedrigste Arbeitslosenquote in Deutschland und Thüringen die niedrigste in Ostdeutschland. Kretschmann regiert seit 2011 in Stuttgart, Ramelow seit 2014 in Erfurt.

Man sollte sich nicht täuschen, dass sie trotz ihrer nach außen zur Schau gestellten Gelassenheit und jahrzehntelangen Erfahrung und linken und grünen Werten von Solidarität und Augenhöhe mit Härte an die Arbeit gehen. Über sich selbst sagt der 63-jährige Ramelow, er sei als Vater streng gewesen. Parteimitglieder erzählen, während der Verhandlungen über die Verschmelzung von WASG und PDS zur Linken, sei Ramelow als Chefunterhändler autoritär gewesen.

Er hat sich hochgearbeitet. Zielstrebig und machtbewusst. Er wuchs in Niedersachen und Rheinhessen mit drei Geschwistern auf. Als Kind war er Legastheniker. Von der Schule ging er mit einem Hauptschulabschluss ab. Er wurde Einzelhandelskaufmann, holte die Mittlere Reife nach und dann die Fachhochschulreife. Er wurde Gewerkschaftssekretär in Hessen und Aufsichtsratsvorsitzender einer Wohnungsgenossenschaft in Thüringen.

1999 trat Ramelow in die PDS ein. 2004 gewann er bei der Landtagswahl in Thüringen ein Direktmandat, wurde kurz darauf Wahlkampfleiter der Partei für die Bundestagswahl 2005, blieb vier Jahre im Bundestag und ging zurück nach Erfurt. Bei der Landtagswahl 2009 konnte er das Ergebnis der Linken verbessern, 2014 die Macht erobern. Er konnte sich auch an das Amt anpassen und auf Provokationen verzichten. Seinen Ohrring trägt er schon lange nicht mehr. Nun beschert er seiner Partei mit 31 Prozent ein historisches Ergebnis. Nur: Die rot-rot-grüne Mehrheit ist futsch. Es ist Ramelow zuzutrauen, dass er sich auf eine Zusammenarbeit  mit der CDU einlässt. Zur Frage einer Koalition hatte er vorher zwar gesagt: „Ich halte das für hochproblematisch. Das wäre eine ganz schwere Belastung der gesellschaftlichen Debatte und Wasser auf die Mühlen der AfD. Beliebigkeit darf nicht die Antwort sein.“ Aber womöglich lotet er einen Weg aus für eine von der CDU tolerierte Linken-Minderheitsregierung oder eine Regierung mit wechselnden Mehrheiten – mitunter mit Hilfe der CDU.

Als Ramelow 2014 Ministerpräsident wurde, demonstrierten mehrere Tausend Menschen gegen ihn. Heute sind es ein paar Dutzend. Mit Genugtuung sagt er: „Man hat auf uns Wetten abgeschlossen, dass wir nach 100 Tagen gescheitert sind. Und fünf Jahre später stehen wir hier und sagen: Wir rocken es weiterhin.“ Wenn es einer schafft, dass sich die CDU 30 Jahre nach dem Mauerfall für die Linke öffnet, ist es der Wessi Ramelow. Auf die Köpfe kommt es an.

(kd)
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