Die Grünen weiter im Aufwind Das Land der aufgehenden Sonnenblume

Wiesbaden · Die Grünen erleben derzeit einen bislang nie gekannten Zulauf. Warum gerade der heiße Sommer für steigende Wählerstimmen sorgte und das Minus der Volksparteien zum Plus der „Ökopartei“ werden konnte.

Man kann ja mal – zum Beispiel auf dem Bauch landen, wenn man Robert Habeck heißt. Oder man kann ja mal – zum Beispiel auf den Füßen landen, wenn man Annalena Baerbock heißt. Geht beides, manchmal sogar an Wahlabenden. Die Bauchlandung in Habecks Fall: Ausdruck von übergroßer Freude über ein historisches Wahlergebnis bei der Bayern-Wahl vor anderthalb Wochen. Da springt der Grünen-Vorsitzende im Stile eines Rockstars in München ausgelassen von der Bühne und landet auf den ausgebreiteten Armen seiner Fans. „Stagediving“, wie es neudeutsch heißt, nach einem Wahlergebnis von 17,5 Prozent. Konfettiregen, Augen zu, Habeck glaubt es nicht: Wahlergebnis mehr als verdoppelt. Baerbock, der andere Teil der Grünen-Doppelspitze im Bund, mag gleichfalls große Sprünge. Sie beherrscht sie auch. In ihrer Kindheit und Jugend zu Hause im niedersächsischen Pattensen war Baer­bock Trampolinspringerin. Was man dafür braucht? Mut und ausgeprägten Gleichgewichtssinn. Vor allem wichtig: möglichst wieder mit den Füßen aufkommen. Auch nach großen Siegen. Spätestens am nächsten Morgen hat einen die Wirklichkeit wieder.

Zurzeit leben Baerbock und Habeck im schönen Teil der Wirklichkeit. Im Land der aufgehenden Sonnenblume, Teil des Grünen-Parteiemblems – nach einem sehr heißen Sommer. Vorboten der Klimakrise haben viele Menschen dabei nicht abstrakt, sondern ganz konkret erlebt, vor allem Landwirte, eigentlich klassische Klientel von CDU und CSU. Das Wasser knapp, die Böden ausgetrocknet, die Ernte in Gefahr – mit teilweise horrenden Einnahmeausfällen. Die Grünen erleben auch deshalb neuen Zuspruch und profitieren zugleich vom Dauerstreit der großen Koalition in Berlin über Flücht­linge, Grenzkontrollen und Transitzentren. Das Minus der Großen wird zum Plus der Grünen. Wenn es Union und SPD miteinander nicht schaffen, wechselt ein Teil der Wähler eben zu den Grünen. 1980 von Revoluzzerkindern auch aus vielen bürgerlichen Haushalten mitgegründet, sind die Grünen heute selbst Teil des gutbürgerlichen Milieus – mit ökologischem Gewissen.

Im Sommer sind Baerbock und Habeck mit einer Anleihe aus der Nationalhymne als Motto („Des Glückes Unterpfand...“) durch die Republik gereist und haben sich bekannt gemacht. Als frische Doppelspitze einer Partei, die Ende vergangenen Jahres als Teil einer Jamaika-Koalition beinahe in die Bundesregierung gelangt wäre, wenn die FDP nicht über Nacht die Segel gestrichen hätte.

Jetzt sind die Grünen gerade dabei, die Republik über die Bundesländer aufzurollen – und staunen über die Wahlergebnisse ebenso wie über sich selbst. Zweitstärkste Kraft in Bayern, das war der erste Testlauf für Baerbock und Habeck. In Hessen haben sie am Wochenende gleichfalls Chancen, im neuen Landtag in Wiesbaden zweitstärkste Fraktion hinter der CDU zu werden. Doch Grünen-Spitzenkandidat Tarek Al-Wazir dämpft übergroße Erwartungen, beispielsweise an einen zweiten Grünen-Ministerpräsidenten nach Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg: „Wir werden nicht größenwahnsinnig.“ Der Begriff Volkspartei, zu der die Grünen schon hochgejazzt werden, ist ihm „dann doch ein Nummer zu groß“. Im kommenden Jahr bei den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen dürfte es schon schwieriger werden, auf vergleichbare Werte zu kommen, denn der deutsche Osten ist nach wie vor Grünen-Diaspora.

Baerbock und Habeck führen die Grünen seit Januar dieses Jahres. Erstmals in ihrer Parteigeschichte haben sich die Grünen mit der Wahl der 37 Jahre alten Klimaexpertin aus Brandenburg und des 49 Jahre alten Shootingstars aus Schleswig-Holstein an die Parteispitze von einem grünen Grundgesetz verabschiedet, wonach in der Doppelspitze sowohl der Realo-Flügel als auch der linke Parteiflügel vertreten sein muss. Die zum linken Parteiflügel zählende Anja Piel, Grünen-Fraktionschefin im niedersächsischen Landtag, verlor beim Parteitag in Hannover die Kampfabstimmung gegen Baerbock deutlich. Habeck sagt zu den einstigen Flügelkämpfen trocken: „Unsere Flügel sind zum Fliegen da, nicht zum Bremsen.“

 Grünes Glück: Robert Habeck, Anton Hofreiter nach der Landtagswahl in Bayern.

Grünes Glück: Robert Habeck, Anton Hofreiter nach der Landtagswahl in Bayern.

Foto: dpa/Sven Hoppe

Baerbock und Habeck gelten als undogmatisch, pragmatisch, modern. Linkes Lager, rechtes Lager – solche Schubladen möchte Habeck erst gar nicht mehr öffnen, weil dies seiner Einschätzung nach „den gesellschaftlichen Möglichkeiten nicht mehr gerecht“ werde. Schon lästert die politische Konkurrenz über die Wahlerfolge der einstigen Ökopaxe. FDP-Chef Christian Lindner nennt Programm und Politikstil der Grünen „cremig“. Im Bundestag geht Lindner den Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter nach einem Zwischenruf wegen der AfD scharf an: „Ich will hier appellieren, dass wir uns gegen die wahren Gegner unserer freiheitlichen Grundordnung zusammenschließen, und Sie kommen hier mit Ihrer Trauma-Verarbeitung von Jamaika, weil Sie nicht Minister geworden sind.“ Auch SPD-Chefin Andrea Nahles machte schon mehrfach deutlich, dass sie die Grünen als starke Konkurrenten ausmacht – etwa im Streit über letzte Braunkohlereviere und künftige Klimapolitik. Und CSU-Chef Horst Seehofer ließ erst vergangene Woche in seiner Wahlanalyse erkennen, dass seine Partei beim Thema Ökologie Nachholbedarf habe. So rät Habeck Union und SPD zu mehr Veränderungswillen: „Keine Veränderung bedeutet, dass die Erosion der Volksparteien weitergeht.“ Doch während die Grünen im Glück schwelgen, haben sie in Bayern gerade erfahren, dass man auch nach einem Sieg mit leeren Händen dastehen kann. Die CSU versucht es lieber mit den Freien Wählern. Grüner wird’s nicht? Kann noch werden. Auch im Freistaat der aufgehenden Sonnenblume.

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