Lageso Flüchtlingschaos vor Merkels Tür

Berlin · Franz Allert musste in Berlin als Sozialamts-Chef gehen. Jeden Tag spielen sich am Lageso dramatische Szenen ab. Die Differenzen hinsichtlich der Flüchtlingspolitik gefährden die Koalition.

Lageso-Chef Franz Allert trat wegen des zunehmenden Drucks der Politik von seinem Amt zurück.

Lageso-Chef Franz Allert trat wegen des zunehmenden Drucks der Politik von seinem Amt zurück.

Foto: dpa, lus lof cul

Vom Kanzleramt aus links, 800 Meter geradeaus, dann rechts, gleich wieder links und nach 500 Metern auf der rechten Seite: Wenn Angela Merkel sich ein Bild davon machen wollte, wie Willkür, Chaos und Brutalität Flüchtlingen die Menschenwürde nehmen, müsste sie nicht weit reisen. Das Lageso, das für die zentrale Flüchtlingsbetreuung in Berlin zuständige Landesamt für Gesundheit und Soziales, liegt vier Autominuten von ihrem Schreibtisch entfernt. Es wirkt, als ob sie es - im Gegensatz zu Merkels Aussage "Wir schaffen das" - eben nicht schaffen würden. Der Behördenpräsident Franz Allert bat nun nach um seine Entlassung, nachdem der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) öffentlich eine andere Leitung gefordert hatte. Aber Besserung ist nicht in Sicht.

Die Situation aus Flüchtlingssicht kommt einem täglichen Albtraum gleich. Bereits um Mitternacht stellen sich die ersten, gegen die Kälte in Decken gehüllt, an der Turmstraße an. Es ist die Hoffnung, in den frühen Morgenstunden in eines der beheizten Wartezelte eingelassen zu werden, um im Laufe des Tages vielleicht einen Termin im Amt zu bekommen. Rund 200 gelingt es, manchmal vielleicht auch 400. Aber täglich kommen 500 bis 800 neue Flüchtlinge hinzu. Und auch die 48.000 anderen aus diesem Jahr brauchen Unterlagen, Bescheinigungen, Geld. Und immer müssen sie dafür zum Lageso.

Die Entfernung zwischen diesem Amt und der Integration dürfte in Lichtjahren zu messen sein. Die Behörde ist schon mit der puren Registrierung überfordert. Unermüdlich kümmern sich ehrenamtliche Helfer um die Betroffenen. Sie wissen inzwischen anhand zahlreicher Erlebnisse: "Wenn wir nicht wären, hätte es längst Tote gegeben."

Die Situation aus Sicht der Mitarbeiter ist kaum weniger frustrierend, wenn auch besser beheizt und bezahlt. Über Jahre sind schon unter dem vorherigen rot-roten Senat Tausende von Stellen abgebaut, die Behördenstrukturen den wenigen Hundert Asylbewerbern angepasst worden. Nun treten sich Aushilfskräfte aus allen Bereichen auf die Füße, werden kaum angeleitet, stapeln die Unterlagen in großen Postkisten. Sie wollen pro Tag möglichst vielen Flüchtlingen helfen, verschlimmern dabei aber das Chaos derart, dass nun immer mehr Behördenzeit dafür drauf geht, in dem Durcheinander die Akten zu finden.

Die Lage an der Spitze der Behörde ist ebenfalls unübersichtlich. De facto war der Landesamt-Präsident bereits von seiner operativen Verantwortung für die Flüchtlingsbetreuung entbunden worden, nachdem ihm in einer "Patensohn-Affäre" mangelhafte Verträge mit privaten Asylbewerberheim-Betreibern vorgeworfen worden waren. Gleichzeitig hatte CDU-Sozialsenator Mario Czaja angekündigt, eine eigene Flüchtlingsbehörde aufzubauen und das Lageso auf andere Aufgaben zu konzentrieren. Angesichts dieser ungeklärten Situation erklärt sich der fehlende Durchgriff von oben. So wertet denn Reiner Holznagel vom Steuerzahlerbund den Rücktritt Allerts als Bauernopfer: Auch sein Nachfolger werde es mit denselben Problemen und denselben personellen Engpässen zu tun haben.

Die Situation aus Sicht der Koalition ist ein Symptom dafür, dass in der SPD-CDU-Landesregierung nicht mehr viel rund läuft. Dass der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) den CDU-Kabinettskollegen Czaja via Fernseh-Abendschau aufforderte, für eine "neue Spitze im Lageso" zu sorgen, spricht Bände. CDU-Fraktionsvize Stefan Evers reagierte mit dem Vorwurf einer "öffentlichen Hinrichtung". Zuvor hatte eine Spitzelaffäre das Bündnis belastet, als die Senatskanzlei sich einen Bericht über einen Czaja-Auftritt anfertigen ließ. Es sieht danach aus, als könnte die Koalition zehn Monate vor der Wahl jederzeit auseinanderbrechen - und zwar auch an unterschiedlichen Vorstellungen zur Flüchtlingspolitik. Vorsichtshalber richten sich die Anträge von Flüchtlings-Anwälten wegen der Zustände im Lageso ("Körperverletzung im Amt") sowohl gegen Czaja als auch Müller.

Liebe Leserinnen und Leser,
Ihre Meinung zu RP Online ist uns wichtig. Anders als sonst bei uns üblich gibt es allerdings an dieser Stelle keine Möglichkeit, Kommentare zu hinterlassen. Zu unserer Berichterstattung über die Flüchtlingskrise haben wir zuletzt derart viele beleidigende und zum Teil aggressive Einsendungen bekommen, dass eine konstruktive Diskussion kaum noch möglich ist. Wir haben die Kommentar-Funktion bei diesen Themen daher vorübergehend abgeschaltet. Selbstverständlich können Sie uns trotzdem Ihre Meinung sagen — per Facebook oder per E-Mail.

(may-)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort