Unsicherheit macht sich breit Alle haben Angst vor allen

Düsseldorf · Die Kriminalitätsrate sinkt, doch die Menschen – vor allem Ostdeutsche, Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund – fühlen sich unsicherer. Ein Widerspruch, der den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet.

 Die Menschen fühlen sich immer unsicherer. (Symbolfoto).

Die Menschen fühlen sich immer unsicherer. (Symbolfoto).

Foto: dpa/Swen Pförtner

Von Argwohn getrieben ist der Mensch dem Menschen ein Wolf, es herrscht ein „Krieg aller gegen alle“. Es ist ein düsteres Bild, das der Philosoph Thomas Hobbes als den Naturzustand des Menschen skizziert. Das mag daran gelegen haben, dass er sein berühmtestes Werk – seine staatstheoretische Schrift „Leviathan“ – vor dem Hintergrund des englischen Bürgerkriegs Mitte des 17.
Jahrhunderts geschrieben hat. Oder daran, dass er ein unverbesserlicher Pessimist war.

Was aber hat das mit Deutschland heute zu tun? Ein Blick in den jüngst veröffentlichten „Viktimisierungssurvey 2017“ (Opferbefragung) macht es deutlich: Die Wissenschaftler wollten mit dem Bericht der viel diskutierten gefühlten Sicherheit der Menschen auf den Grund gehen. Mehr als 30.000 Menschen haben sie gefragt, wie sicher sie sich fühlen. Das Fazit der Erhebung: Die Menschen fühlen sich unsicherer als noch 2012, wenn sie nach Einbruch der Dunkelheit alleine zu Fuß unterwegs sind.

Interessanter als dieser Anstieg ist allerdings die Entwicklung innerhalb bestimmter Gruppen:

Frauen Sie sind nicht nur wesentlich häufiger von Kriminalitätsfurcht betroffen als Männer, bei ihnen hat das Unsicherheitsempfinden seit 2012 auch stärker zugenommen. Und es sind vor allem Frauen, die zum Schutz vor Kriminalität bestimmte Situationen und Orte meiden – eine eklatante Einschränkung der persönlichen Freiheit.

Ostdeutsche Auch 30 Jahre nach der Wende besteht eine Kluft zwischen West- und Ostdeutschland. Ostdeutsche fühlen sich laut dem Survey nicht nur unsicherer als Westdeutsche, sie schätzen auch das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, größer ein. Beunruhigend ist auch, dass laut einer Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung mehr als 35 Prozent der Ostdeutschen sich als „Bürger zweiter Klasse“ empfinden. Diese Studie stellt auch fest: Fast die Hälfte der Ostdeutschen und immerhin 32 Prozent der Westdeutschen hätten „ein schlechtes Gefühl“, wenn immer mehr Muslime im Berufsleben in Führungspositionen kämen.

Migranten Eingewanderte und ihre Kinder geben signifikant häufiger an, sich unsicher zu fühlen, und sie befürchten stärker, Opfer von Straftaten zu werden. Dabei sind diese Unsicherheitsgefühle bei türkischstämmigen Personen besonders ausgeprägt: Hier ist der Anteil an furchtsamen Personen doppelt so groß wie bei Personen ohne Migrationshintergrund.

Zugespitzt heißt das: Alle haben Angst vor allen – und die drei herausgestellten Gruppen voreinander. Ostdeutsche haben Angst vor Zuwanderern, Zuwanderer haben Angst vor Hassverbrechen, Frauen haben Angst vor sexueller Gewalt. Und da sind wir beim Hobbes’schen Argwohn, der um sich greift – allen statistischen Fakten zum Trotz.

Denn vor dem Hintergrund der gerade veröffentlichten Kriminalitäts­statistik des Bundesinnenministeriums entsteht ein Paradox: eine Kriminalitätsrate so niedrig wie seit 1992 nicht mehr auf der einen, wachsende Unsicherheit der Bevölkerung auf der anderen Seite. Zwei Seiten ein und desselben Landes: schwarz und weiß, dunkel und hell, Angst und Sicherheit.

Wie kann es sein, dass Frauen heutzutage Orte und Situationen meiden, weil sie fürchten, Opfer zu werden?

Wie kann es sein, dass 30 Jahre nach der Wende Menschen aus Ostdeutschland sich immer noch als Bürger zweiter Klasse fühlen?

Und wie kann es sein, dass Deutsche ein schlechtes Gefühl haben, wenn Muslime Chefs werden – sich also perfekt integrieren?

Es ist ein Widerspruch, Integration zu verlangen, es aber auch nicht gut zu finden, wenn zugezogene Menschen oder ihre Kinder Karriere machen. Ratio und Emotion stehen hier einander gegenüber – wie auch beim Widerspruch zwischen einer gefühlten Zunahme der Unsicherheit bei gesunkener Kriminalitätsrate.

Wir leben in einer politisch-gesellschaftlichen Kultur, in der sich die Befindlichkeiten nicht mehr nur aus Daten und Fakten speisen, sondern aus Gefühlen. Die Marx’sche Logik, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, scheint umgekehrt: Das Bewusstsein bestimmt das Sein. Die gefühlte Unsicherheit führt dazu, dass Frauen aufgrund einer Empfindung bestimmte Orte meiden und sie manifestiert sich in Wahlergebnissen: 12,6 Prozent der Deutschen haben bei der Bundestagswahl mit der AfD einer Partei ihre Stimme gegeben, die diese Gefühle der Unsicherheit und Angst kanalisiert und instrumentalisiert.

Das Problem des Bewusstseins ist seine Überforderung: die ständige Verfügbarkeit von Nachrichten, Meinungen, Kommentaren, echten und falschen Meldungen; das Gefühl einer großen Ohnmacht, die seit Globalisierung und Digitalisierung das Selbstbewusstsein der Menschen schwächt. Ihr Übriges tut eine rhetorische Eskalationsspirale, die immer mehr Grenzüberschreitungen zulässt. Es scheint niemand mehr in der Lage, Stil zu bewahren, differenziert statt populistisch zu sprechen. Gehört wird nur noch der, der am lautesten schreit.

Die Lehre daraus? Heute kommt es mehr denn je nicht mehr nur darauf an, gute Politik zu machen, sondern diese auch klar zu kommunizieren – bis in die letzten Winkel der Gesellschaft. Von der Vermittlung politischer Entscheidungen wird es künftig viel stärker abhängen, ob ihr Inhalt von den Bürgern überhaupt wahrgenommen und dann auch akzeptiert wird.

Wenn das Sicherheitsgefühl ein Indikator für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist, dann sehen wir gerade zu, wie dieser in Deutschland Tag für Tag erodiert. Von einem Zustand wie den von Thomas Hobbes beschriebenen sind wir noch weit entfernt. Ihm nähern sollten wir uns trotzdem nicht.

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