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Nahostkonflikt Im Zweifel innehalten

Meinung · Mit Entsetzen blickt die Welt auf den Nahostkonflikt. Für unsere deutsch-palästinensische Autorin hat der Krieg auch eine ganz persönliche Komponente. Warum sie sich in ihrer Heimat noch nie so fremd fühlte wie heute - und was sie sich für die Debatte in Deutschland wünscht.

 Sofern sie im Kern menschlich sind, muss man unterschiedliche Wahrnehmungen und Empfindungen aushalten können.

Sofern sie im Kern menschlich sind, muss man unterschiedliche Wahrnehmungen und Empfindungen aushalten können.

Foto: picture alliance / NurPhoto/Romy Arroyo Fernandez/DPA

„Das ist ein Moment der Wahrheit“, mahnte UN-Generalsekretär António Guterres vergangenen Freitag und appellierte an unser tiefstes, moralisches Selbstverständnis, an unsere menschliche Verantwortung. Er schrieb dieses Statement rund drei Wochen, nachdem durch den Überfall der Hamas auf Israel vor unser aller Augen ein weiterer schrecklicher Krieg entfacht wurde, dem bereits Tausende Zivilisten zum Opfer gefallen sind, und in dem Tag für Tag Menschen um ihr Leben und ihre Liebsten bangen müssen.

Diese Zivilisten, egal, in welchem Teil zwischen Jordan und Mittelmeer sie geboren und gestorben sein mögen, unterschieden sich in keiner Weise von uns: Sie alle hatten Träume, Talente, Werte, Kenntnisse und Erfahrungen, die sie sich über Jahre hinweg aufgebaut haben. Sie hatten Pläne, Ziele, Unsicherheiten, die sie bisweilen versuchten zu verstecken. Und kleine Macken, mit denen sie ihr Umfeld verrückt machten. Sicher hatten sie auch Stärken, blickten auf ganz persönliche, kleine Glanzmomente in ihrem Leben zurück, in denen sie ihrem Instinkt gefolgt, für eine gute Sache eingestanden sind und ihrer Umgebung einen Funken Hoffnung geschenkt haben.

Als Deutsch-Palästinenserin ringe ich in diesen Tagen mit den Worten. Ich fühle mich überfordert und erschlagen von den Geschehnissen, die sich in dem Land, in dem mein Vater geboren wurde, aber auch in meinem, in Deutschland, ereignen.

Denn selten standen mein Geburtsort und der meines Vaters in einem so starken Zusammenhang. Noch nie habe ich mich in meiner Heimat so fremd gefühlt. Denn ich bin kein Mensch, der sich mit seinen Gedanken und Worten gerne am Konsens vorbeibewegt. Trotzdem fühlt es sich in diesen Zeiten so an, zwangsläufig, als Mensch mit palästinensischen Wurzeln in Deutschland.

Immer dann, wenn ich mein Mitgefühl mit Zivilisten in Gaza ausdrücke, die den Entscheidungen der Hamas genauso wie denen des Staates Israel ausgeliefert sind. Auf die humanitäre Katastrophe und die fehlenden Schutzräume in Gaza hinweise. Über die anhaltende Besatzung und den Siedlungsbau im Westjordanland spreche, über die vielen Administrativhäftlinge oder die seit 2007 andauernde Blockade im Gazastreifen.

Nicht, weil ich das Leid der Israelis und Juden übersehe. Nicht, weil ich die Hamas nicht verurteile. Oder ihre Befürworter, Judenhasser, aus tiefstem Herzen verabscheue. Auch nicht, weil ich nicht darauf hoffe, dass all die israelischen Geiseln befreit werden mögen, dass sie zu ihren Familien, in Sicherheit gebracht werden. Und ganz bestimmt nicht, weil ich mit dem Verweis auf den historischen und politischen Kontext das Leid und den Schmerz der Israelis und Juden in irgendeiner Weise relativieren geschweige denn rechtfertigen möchte.

Doch dahingehend brauche ich, Gott sei Dank, hierzulande keine Überzeugungsarbeit mehr zu leisten. Weil die meisten Menschen in diesem Land, Politiker und Medien, sich einig sind, hinter den jüdischen Israelis stehen. Und damit richtigerweise signalisieren, dass wir unsere besondere Verantwortung, jüdisches Leben in Deutschland und aller Welt zu schützen, ernst nehmen.

Wovon ich aber in den vergangenen Wochen viele Menschen überzeugen musste, ist, dass auch die Palästinenser unser Mitgefühl und unsere Unterstützung verdient haben. Und dass das palästinensische Volk nicht der Inbegriff von Hamas, Terror und Judenfeindlichkeit ist. Als meine Verantwortung empfinde ich es, darauf aufmerksam zu machen, dass auch sie Menschen sind. Menschen, die es, wie wir alle, verdient haben, in Frieden und Freiheit zu leben.

Und da ich nicht erst seit dem 7. Oktober, sondern seit ich klein bin, und die ersten Schnipsel der Familiengeschichte meines Vaters aufgeschnappt habe, versuche zu ergründen, was da zwischen Jordan und Mittelmeer eigentlich vor sich geht, weiß ich, dass sie das schon sehr lange nicht tun. Genauso habe ich über die Jahre gelernt, dass es in dieser Geschichte keine Absolution gibt. Weil mehrere Jahrzehnte mit politischen Strömungen, Stimmungen, Interessen, Ereignissen und Personen sich nicht einfach in ein eindeutiges Bild pressen lassen, weil sich die Erfahrungen der Menschen und ihre Schicksale auf beiden Seiten widersprechen. Das ist überfordernd und überfordert auch mich.

Wenn ich aber eines mit aller Gewissheit sagen kann, dann, dass unsere menschliche Verantwortung nicht darin liegt, einen Konflikt zu lösen, der sogar das wichtigste völkerrechtliche Organ unserer Zeit, die Vereinten Nationen, in seinen Grundfesten erschüttert. Unsere Verantwortung liegt darin, einen Schritt zurückzutreten, besonnen und mit Weitblick zu agieren. Gerade da wir hier alle in Sicherheit und Frieden leben dürfen, zu verhindern, dass dieser Konflikt auch unser Land spaltet.

Unsere Aufgabe ist es auch, neue Perspektiven kennenzulernen, offen zu sein für Wahrnehmungen und Empfindungen, die man nicht verstehen oder befürworten, aber aushalten können muss, sofern sie im Kern menschlich sind. Das bedeutet, Stimmen nicht wegzudrücken, nur weil einem die Schlussfolgerung des Gegenübers nicht gefällt, sondern der Argumentationskette aufmerksam und aufrichtig zu folgen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Denn daraus lassen sich häufig tiefer reichende Erkenntnisse über Erfahrungen und Beweggründe eines Menschen ableiten. Und am Ende ist es unser aller Verantwortung, diese Perspektiven abzugleichen und einzuarbeiten in das Gedankenkonstrukt, das wir in unseren Köpfen individuell, der eigenen Biografie und Familiengeschichte entsprechend, gebildet haben. So versuche ich es, seit ich klein bin.

Und wenn ich auf eines inständig hoffe, dann nur auf baldigen Frieden. Auf ein freies, sicheres, sorgenfreies und sinnerfülltes Leben für Israelis, Palästinenser und Beduinen, für Juden, Christen, Drusen und Muslime, vom Jordan bis zum Mittelmeer.

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