Institute senken Konjunkturprognose deutlich Wachsender Extremismus alarmiert Wirtschaftsforscher

Berlin · Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute senken ihre Wachstumsprognose so deutlich wie selten zuvor und erwarten nun eine spürbare Schrumpfung der Wirtschaft im laufenden Jahr. Erstmals warnen sie vor den negativen wirtschaftlichen Folgen des zunehmenden politischen Extremismus und antidemokratischer Kräfte.

 Axel Lindner, (vorne links) Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), und Oliver Holtemöller (vorne rechts, IWH), stellten zusammen mit (hintere Reihe, l-r) Timo Wollmershäuser, ifo-Institut München, Torsten Schmidt, RWI Essen, Geraldine Dany-Knedlik, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung und Stefan Kooths, Institut für Weltwirtschaft Kiel, die neue Gemeinschaftsdiagnose vor.

Axel Lindner, (vorne links) Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), und Oliver Holtemöller (vorne rechts, IWH), stellten zusammen mit (hintere Reihe, l-r) Timo Wollmershäuser, ifo-Institut München, Torsten Schmidt, RWI Essen, Geraldine Dany-Knedlik, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung und Stefan Kooths, Institut für Weltwirtschaft Kiel, die neue Gemeinschaftsdiagnose vor.

Foto: dpa/Bernd von Jutrczenka

Schwache Weltwirtschaft, hohe Inflation, gestiegene Zinsen — die Konjunkturaussichten für Deutschland haben sich stark eingetrübt: Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute sagen eine Schrumpfung im laufenden Jahr voraus. Die Wirtschaftsleistung werde um 0,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr sinken, heißt es in der neuen Gemeinschaftsdiagnose der Institute. Sie reduzieren ihre bisherige Vorhersage vom Frühjahr um 0,9 Prozentpunkte so stark wie selten zuvor. Im kommenden Jahr werde die Wirtschaft wieder mit einer Rate von 1,3 Prozent wachsen, aber um zwei Zehntel weniger als bisher vorausgesagt. 2025 erwarten die Institute eine Expansion um 1,5 Prozent – denn die Inflation werde nachlassen, die Reallöhne steigen und die Kaufkraft wieder zunehmen.

Die fünf Institute – das RWI in Essen, das Ifo-Institut in München, das Kieler IfW, das IWH in Halle und das Berliner DIW – erstellen ihre Gemeinschaftsprognose jeweils im Frühjahr und im Herbst. Für die Bundesregierung bildet sie eine wichtige Grundlage für ihre eigene Vorhersage, die dann wiederum Grundlage für den Kurs der Wirtschafts- und Finanzpolitik und die kommende Steuerschätzung im Oktober sein wird.

Der wichtigste Grund für den seit fast einem Jahr anhaltenden Abschwung sei, „dass sich die Industrie und der private Konsum langsamer erholen, als wir im Frühjahr erwartet haben“, sagte Oliver Holtemöller vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). Der sprunghafte Anstieg der Energiepreise habe die Erholung der Konjunktur nach der Corona-Pandemie abgewürgt. In vielen energieintensiven Industriezweigen sei dadurch die Produktion weggebrochen. Zudem habe die hohe Inflation den Konsumenten Kaufkraft entzogen. „Hinzu kommt, dass die Politik der Bundesregierung Unternehmen und Haushalte massiv verunsichert“, heißt es im Gutachten. Sie rieten der Regierung dringend ab, durch weitere „kleinteilige“ Maßanahmen wie etwa der Förderung von Solardächern, verbunden mit einer E-Auto-Ladesäule, Energiepolitik betreiben zu wollen. Die Förderung war am Mittwoch 24 Stunden nach dem Start bereits ausgeschöpft gewesen und dürfte alle leer ausgehenden Antragsteller frustrieren.

„Die konjunkturelle Schwäche ist mittlerweile auf dem Arbeitsmarkt angekommen“, schreiben die Institute. Angesichts der „notorischen und sich perspektivisch weiter verschärfenden Personalknappheit in vielen Bereichen“ erwarten sie aber nur einen „moderaten Anstieg“ auf 2,6 Millionen Arbeitslose im laufenden Jahr – das wären etwa 174.000 mehr als 2022. „Im kommenden Jahr wird die Zahl der Arbeitslosen wohl leicht sinken“, so die Prognose. 2025 soll sie auf weniger als 2,5 Millionen sinken.

„An der Preisfront entspannt sich die Lage nach und nach“, heißt es in der Gemeinschaftsdiagnose. Die Inflationsrate dürfte im laufenden Jahr bei 6,1 Prozent liegen, 2024 aber deutlich auf 2,6 Prozent fallen und 2025 auf 1,9 Prozent. Die Institute nehmen an, dass die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Leitzinsen jetzt nicht weiter erhöht und ab Herbst 2024 wieder senken wird.

Schwierige Zeiten werden der Baubranche vorhergesagt. „Das Baugewerbe kommt zunehmend in schweres Fahrwasser.“ Wegen gestiegener Finanzierungskosten dürften etwa die Wohnungsbauinvestitionen „bis in das nächste Jahr hinein wohl deutlich zurückgehen“. Vorerst keine großen Sprünge nach oben werden im Exportgeschäft erwartet. „Die konjunkturelle Flaute in wichtigen Absatzmärkten wie dem Euroraum und China, von denen vor allem weniger Konsum- und Vorleistungsgüter nachgefragt werden, bremst die Exporte“, betonten die Institute.

Der Kurs der Finanzpolitik werde wegen der Schuldenbremse ab 2024 von expansiv auf restriktiv umschwenken, was auch richtig sei, so die Institute. Die Regierung dürfe durch zusätzliche Verschuldung und Konjunkturprogramme nicht den Fehler begehen, die Inflation zusätzlich anzuheizen. Das Wachstumschancengesetz von Finanzminister Christian Lindner (FDP), das Unternehmen um jährlich sieben Milliarden Euro steuerlich entlasten soll, sei der richtige Weg, wenngleich das Volumen auch gering ausfalle.

Einen Industriestrompreis, wie ihn Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und die energieintensive Industrie fordern, lehnen die Institute strikt ab. Es sei effektiver, die Mittel dafür woanders einzusetzen. Strukturwandel dürfe nicht aufgehalten werden. Das beste Mittel für die Transformation der Wirtschaft sei ein einheitlicher CO2-Preis, den alle Unternehmen und Verbraucher einpreisen müssten. Alarmiert zeigten sich die Institute über den wachsenden politischen Extremismus von Rechts und von Links. Davon würden „erhebliche Risiken für die langfristigen Wachstums- und Wohlstandsaussichten“ ausgehen – etwa, weil ausländische Investoren um Deutschland deshalb zunehmend einen Bogen machen könnten.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort