Leben mit dem Coronavirus Von Tag zu Tag

Die Corona-Zeit ist eine Übung im Ertragen offener, mehrdeutiger Situationen. Wer weiß schon, was nächste Woche ist? Nicht immer reagieren die Menschen klug darauf. Zu hoffen wäre deshalb, dass die Krise ein Moment der Selbstbescheidung wird. Das wäre auch politisch hilfreich.

 Schild im Fenster eines Juweliers in Stendal (Sachsen-Anhalt).

Schild im Fenster eines Juweliers in Stendal (Sachsen-Anhalt).

Foto: dpa/Klaus-Dietmar Gabbert

Ein bisschen kommt man sich gerade vor wie in einem barocken Stillleben: Es ist alles eitel. Was waren doch volle Terminkalender für eine Anmaßung! Verabredungen zu treffen und einzuhalten, scheinbar eine Selbstverständlichkeit, ist derzeit fast und bald vielleicht ganz unmöglich. Corona zeigt uns, dass es da draußen noch Zeitläufte gibt, die all unsere kunstvollen Pläne von jetzt auf gleich zur Makulatur machen können.

Wenn die Rahmenbedingungen infrage stehen, bleibt nicht viel anderes übrig, als die Planungen auf den Bereich des Absehbaren zu beschränken, was derzeit bedeutet: höchstens ein paar Tage. Wer weiß schon, was nächste Woche ist? Was früher bestenfalls als Kalendersinnspruch taugte, ist jetzt harte Alltagswirklichkeit.

Die Corona-Zeit ist eine Übung im Ertragen offener, mehrdeutiger Situationen. Ich sehe das Virus nicht, trotzdem kann es gefährlich sein, Menschen zu treffen, und zwar nicht nur für mich. Es mag mich in den Fingern jucken, jetzt auch Klopapier zu kaufen, aber es ist unvernünftig. Die einfache Reaktion ist, das Grau des Uneindeutigen in ein Schwarzweiß aus Erregung und Misstrauen aufzulösen (alles Idioten! Ich weiß selbst, was am besten für mich ist!). Die klügste Reaktion ist es nicht, eben weil das Geschehen viel zu komplex ist.

Ein solcher Unwille gegenüber Komplexität und Ambivalenz ist aber zu beobachten; Aufrufe zu „Corona-Partys“ sind nur sein radikalster Ausdruck. Und das Phänomen fügt sich in die Entwicklung der vergangenen Jahre in Deutschland: Zurückhaltung, Gelassenheit und Vertrauen auf Fachverstand sind als gesellschaftliche wie als politische Tugenden rarer geworden. Dass die Krise auch ein Moment der Besinnung und der Selbstbescheidung sein könnte – das ist, zugegeben, eine kühne Hoffnung. Aber man wird ja wohl noch hoffen dürfen.

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