Kolumne: Total Digital Denken Sie an meinen Bizeps!

Im Internet begegnet uns die Welt ohne Filter: gewalttätig, roh, verstörend. Umso wichtiger ist es, dass wir mehr in digitale Bildung investieren - gerade für Erwachsene.

Als Kind war ich besonders stolz auf meinen ausgeprägten Bizeps. Er war so groß, dass ich ihn mit meiner Hand nicht umgreifen konnte. Dabei stemmte ich keine Gewichte oder so, spielte nur draußen wie andere Zweitklässler auch. Umso erstaunlicher war das Ergebnis. Auch Mitschüler, denen ich davon erzählte, staunten.

Dann krempelte ein anderer Junge aus der Klasse den Ärmel hoch -und ich musste feststellen, dass das, was ich für den Bizeps hielt, in Wahrheit mein Ellbogengelenk war.

Drei Dinge habe ich in diesem Moment gelernt: 1. Der Bizeps sitzt am Oberarm. 2. Die Wahrheit kann wehtun. 3. Nichts ist so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint.

Ich habe zuletzt häufig an diese Lehren gedacht - zumindest an die beiden letzteren. Denn durch die sozialen Netzwerke, durch das Internet generell, werden wir so schnell und geballt mit den Problemen dieser Welt konfrontiert, dass die reflexhaften Reaktionen überhand nehmen. Das reicht von spontanen Beileidsbekundungen bis zum Teilen von Anti-Flüchtlings-Beiträgen, weil man sich sorgt. Bilder, Videos, Texte: gesehen, verbreitet - verstanden?

Wir müssen uns 2017 die Frage stellen, wie wir eine Lösung aus dem Dilemma finden. Einerseits begegnet uns die Welt im Netz vielfach ohne Filter: gewalttätig, roh, verstörend. Es bräuchte Zeit, um sich damit auseinanderzusetzen, es zu verstehen. Andererseits erhöhen digitale Medien das Tempo, so dass oft keine Zeit für mehr als Reflexhandlungen bleibt, weil der Nachrichtenstrom Neues anspült.

Darauf muss sich die Gesellschaft einstellen. Das heißt zum einen: Facebook und Co. müssen mehr Verantwortung für Inhalte auf ihren Seiten übernehmen - und Auswahlkriterien transparenter machen.

Das heißt aber zum anderen auch: Wir brauchen mehr Bildung, mehr Medienkompetenz. Die Antwort auf das Internetzeitalter kann sich nicht in der Forderung nach Informatik als Schulfach erschöpfen. Viele Menschen müssen erst wieder lernen, zwischen den Codezeilen zu lesen. Nicht nur Kinder, auch viele Erwachsene, die ohne Internet aufgewachsen sind und nun damit konfrontiert werden. Es geht um ganz analoge Techniken, um Quellenkritik, das kritische Hinterfragen von Absendern und Botschaften.

In wenigen Monaten werden in Nordrhein-Westfalen und auf Bundesebene neue Parlamente gewählt. Digitale Bildung sollte da ein zentrales Thema sein. Und bis dahin gilt: Wenn Ihnen etwas spontan absolut einleuchtend vorkommt, denken Sie kurz an meinen Bizeps, bevor Sie es verbreiten.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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