Gott Und Die Welt Wenn es so richtig ernst wird – beim Klassentreffen

Klassentreffen sind existenziell ernste Angelegenheiten. Denn bei diesen Zusammenkünften blicken wir zurück in die eigene Vergangenheit und Vergänglichkeit.

Irgendwann musste es ja so kommen: die Einladung zum Klassentreffen, zur Rückschau also auf einstige Bildungswege. Milder betrachtet: ein netter Ausflug in die eigene Jugend; ehrlicher gesagt: ein unverfälschter Blick in das Gesicht von Vergangenheit und Vergänglichkeit. Das klingt jetzt vielleicht ein wenig dicke; aber mit der Einladungskarte vor der Nase (und der Absender verriet, dass sich alle fünf Jahre immer dieselben Leute damit mühten) kommt das Assoziationsrädchen im Kopf mächtig in Schwung. Plötzlich erschien das Treffen der reife-geprüften Jahrgangsstufe wie eine Abrechnung mit der voranschreitenden Lebenszeit. Wobei dies nicht ganz so plump geschieht wie an den sogenannten runden Geburtstagen. Klassentreffen sind darin etwas feinnerviger — das ist ihre subtilste Eigenschaft. Denn in aller Regel geht es dabei nicht so sehr um Erfolgsnachweise wie bei jenem Fuzzi aus der Fernsehwerbung, der — als habe er einen Grand Hand mit vieren — seine Fotos zückt und triumphiert: mein Haus, mein Auto, mein Pferd usw. Nein, Klassentreffen sind existenziell ernste Angelegenheiten; und sie beginnen meist mit der empathischen Übersicht danach, wer noch da ist, wer überhaupt erreichbar war, wer sich mit dubiosen Gründen entschuldigen ließ oder wer sich gar nicht mehr entschuldigen konnte. Solche Bilanzen erden.

Das chronologisch Spannende an Klassentreffen ist, dass nie die aktuelle Gegenwart gemeint ist, also nicht die vielen geglückten oder auch weniger geglückten Lebensschicksale. Das eigentlich Bedeutsame ist die gemeinsam verbrachte Schulzeit. Denn diese Jahre sind zur Epoche gefroren. Beim Klassentreffen wird die Vergangenheit zur Gegenwart und lässt die tatsächliche Gegenwart draußen vor der Tür als Schreckgespenst. Wir aber erinnern uns lieber daran, dass in der mehr oder weniger wilden, dezent anarchischen Zeit der Abiturprüfung nicht nur Claudia und Ulf für immer voneinander ließen, sondern dass es noch zwei deutsche Staaten gab, dass es uns zwar schon damals an Geld fehlte, nur dass der Mangel in D-Mark und nicht in Euro berechnet wurde, dass eine Frau an der Spitze des Staates im Allgemeinen und Angela Merkel im Besonderen unvorstellbar waren und dass man gegen Atomraketen protestierte in einer rheinischen Kleinstadt, die damals ein bisschen Hauptstadt spielte. Zur Vorbereitung des Treffens dann gestern zum Bäcker: Dinkel- und Sauerteigbrötchen wie immer?

Nein, diesmal eine Bestellung für die kommende Woche: 60 helle Brötchen, belegt mit Gouda vollfett.

Eine Beerdigung?

Ich weiß es nicht.

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(RP)
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