Gott Und Die Welt Warum der waschechte Stau ein Segen sein kann

Viele fluchen über den ruhenden Verkehr. Das aber ist grundfalsch. Wir sollten vielmehr die beglückenden Seiten des Staus endlich anerkennen und ihn als einen Bildungsort begreifen lernen.

Die modernen Orte des Denkens sind keine ollen Tonnen mehr, keine pompösen Auditorien oder Schattenplätze unter knorrig-alten Ölbäumen in griechisch kargen Landschaften. Es sind vielmehr Alltagsplätze, an denen mit schnöden Verrichtungen die Zeit angehalten oder wenigstens verlangsamt wird. Beim Spülen zum Beispiel. Oder beim Bügeln, vorausgesetzt, der Fernseher bleibt abgeschaltet. Manchmal ist auch das Bett eine ganz gute Stätte der Besinnung, kurz bevor der Schlaf sich breitmacht. In dieser Situation kommen einem oft Gespräche des Tages in den Sinn, mit Vorliebe Streitgespräche, aus denen man nicht immer ganz so toll hervorgegangen ist. Aber im Bett, siehe da, stellen sich munter die besten Antworten ein, die finalen Repliken, die überwältigenden Schlussworte. Das späte Siegesgefühl ist allerdings traurig grundiert, da ja die Redeschlacht schon geschlagen und bestenfalls unentschieden ausging. Vielleicht das nächste Mal.

Mein Lieblingsplatz des Denkens aber ist das Auto in seinem bevorzugten Biotop — dem gemeinen Stau. Die Zeiten sind ja längst vorbei, in denen wir uns über den ruhenden Verkehr echauffierten, weil wir den Stau als etwas Gegebenes insgeheim anerkannt und mit ihm darum zu leben gelernt haben. Die urwüchsige Kraft des Staus zeigt sich schon darin, dass er vom Menschen nicht zu beseitigen ist. Wir können mit noch so breiten Straßen unsere Landschaften durchpflügen, nach kurzer Zeit wird sich auch dort der Stau heimisch fühlen. Das wird garantiert auch im Jahr 2027 noch so sein, wenn die A 57 längst siebenspurig ist und links und rechts entlang der alten Geismühle führt.

Sollte es darum nicht an der Zeit sein, sich den beglückenden Seiten des Staus zuzuwenden? Zum Beispiel die gute alte Entschleunigung — ein Modewort, das an dieser Stelle flugs in die Kolumne hineingeworfen werden kann. Außerdem lässt sich im waschechten Stau noch geräumig träumen, sinnen, reflektieren. Ganz zu schweigen vom Bildungsauftrag. So können Staumeldungen zu einer essenziellen Bereicherung des Geografie-Unterrichts mutieren. Wer etwa die Verkehrsnachrichten des Deutschlandfunks an einem Freitag kurz nach 13 Uhr hört, bekommt einen guten Eindruck von der Vielfalt der Regionen und Städte. Ohne eine solche Unterweisung jedenfalls wäre mir die Existenz des Städtchens Vlotho-Exter unbekannt geblieben. Wer also den netten Nebeneffekt unseres exzessiven Individualverkehrs einmal erkannt hat, wird jede Maut als Wissenssteuer gutheißen. Und nur Mitglieder bildungsferner Schichten werden einander künftig noch eine gute Fahrt wünschen.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort