Kolumne: Gott Und Die Welt Nächstenliebe steckt in jedem von uns

Köln · Almosen allein verändern die Lebenssituation nicht dauerhaft, sondern belassen Menschen in der Abhängigkeit. Diese Einsicht war vor 100 Jahren die Geburtsstunde der organisierten Caritas.

 Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki.

Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki.

Foto: Woelki

Wer kennt das nicht: Menschen, die auf der Straße leben, bitten uns um Geld - sollen wir ihnen etwas geben oder nicht? Der Kopf sagt vielleicht: Nein, denn das Geld könnte ja in Alkohol und Zigaretten fließen. Das Herz sagt hingegen: Ja, warum nicht? Er braucht den Euro dringender als wir. Tatsächlich geht es hier aber um mehr als eine finanzielle Abwägung, die Situation wirft jedes Mal die Frage auf: Wie gehe ich mit Menschen um, die meine Hilfe benötigen; denen es schlechter geht als mir; die plötzlich in Not geraten sind; die nicht wissen, wie es weitergehen soll in ihrem Leben? Diese Fragen stellten sich auch die Christinnen und Christen, die vor 100 Jahren den Kölner Diözesan-Caritasverband gründeten. Als Hunderttausende als Kriegsversehrte zurückkamen und versorgt werden mussten. Als die Menschen in Deutschland Hunger litten. In dieser Zeit halfen zahlreiche kirchlich-caritative Initiativen den Menschen in Not auch materiell - mit Nahrung, Unterkunft, Geld. Doch es ging um mehr als Almosen: Die Menschen brauchten Arbeitsplätze, faire Löhne, Familien benötigten menschenwürdige Wohnungen, Kinder Bildung. Denn Almosen allein verändern die Lebenssituation nicht dauerhaft, sondern belassen Menschen in der Abhängigkeit. Diese Einsicht war vor 100 Jahren die Geburtsstunde der organisierten Caritas im Erzbistum Köln. Daraus wurde ein großer Wohlfahrtsverband, der seit seiner Gründung konkrete Initiativen startet und den Aufbau des Sozialstaats vorantreibt.

Die Motivation dafür kommt bis heute aus dem christlichen Glauben. Weil wir überzeugt davon sind, dass Gott sich in jedem Menschen zeigt und dass jeder Mensch eine gottgegebene, unverlierbare Würde hat. Wir können nicht wegschauen und weitergehen. Wir können nicht Augen, Mund und Ohren verschließen vor der Not des Anderen, des Nächsten, des Gegenübers. Caritas bedeutet tätige Nächstenliebe und uneigennütziges Wohlwollen. Mitleid zu haben, dem Nächsten helfen zu wollen - das sind Haltungen, die in jedem Menschen zu wecken sind. Herbert Grönemeyer singt dazu treffend: "Und der Mensch heißt Mensch, weil er irrt und weil er kämpft, weil er hofft und liebt, weil er mitfühlt und vergibt und weil er lacht, und weil er lebt."

Mein Euro für den Mann oder die Frau auf der Straße kann ein solches Zeichen der Zuwendung sein - aber darin darf sich die Zuwendung nicht erschöpfen. Darüber hinaus braucht es den Einsatz für einen verlässlichen Sozialstaat und stets das Gespräch von Mensch zu Mensch.

Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki schreibt hier an jedem dritten Samstag im Monat. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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