Gesellschaftskunde Was wir von Edward Snowden lernen können

Im Industriezeitalter stand der Mensch der Maschine hilflos gegenüber. Im Informationszeitalter fühlt er sich der Datenüberwachung ausgeliefert. Doch es gibt auch Einzelne, die sich nicht hinter ihrer Ohnmacht verstecken: Edward Snowden zum Beispiel.

Als Charlie Chaplin 1936 seinen Film "Moderne Zeiten" herausbrachte, schenkte er der Nachwelt ein gültiges Bild für das Unbehagen an der Technik: ein einzelner Mensch zwischen den Zähnen eines Räderwerks, ausgeliefert an einen mächtigen Mechanismus, den er nicht anhalten kann und der ihn zermalmt, wenn er versucht, ihm in die Speichen zu greifen. Der kleine Latzhosen-Arbeiter im gigantischen Getriebe ist ein Bild der ungleichen Kräfte — ein Bild der Ohnmacht.

Die "modernen Zeiten" haben sich gewandelt. Nicht mehr die fauchenden Maschinen des Industriezeitalters beherrschen den Menschen, sondern lautlose Mechanismen: Datenanalysen, die Auswertung von Big Data, jener gigantischen Informationssammlungen, in denen sich unser Leben spiegeln soll. Aus dem Industrie- ist das Informationszeitalter geworden, aus dem Räderwerk der Logarithmus, mit dem Maschinen berechnen, ob wir bald eine Bombe bauen, einen Herzinfarkt erleiden oder das neue Buch von Dan Brown kaufen werden. Die Analyse gesammelter oder sogar erspähter Informationen ist der neue gigantische Mechanismus, dem sich der Einzelne heute ausgeliefert fühlt wie einst Chaplin der öligen Maschine.

Und nun hat einer doch in die Speichen gegriffen, hat sich ganz allein entschieden, an die Öffentlichkeit zu bringen, wie es zugeht im dunklen Maschinenraum des Informations-Verarbeitungsapparats: Edward Snowden hat Initiative ergriffen und zutage gefördert, was ihm als Unrecht erscheint. Der schmächtige ITler mit dem weichen Gesicht, der Proletarier der Neuzeit, hat sich mit erstaunlichem Eigensinn gegen den Zeitgeist gewandt: Er hat sich nicht hinter modernen Ohnmachtsgefühlen versteckt, sondern seinen Spielraum erkannt und genutzt. Er hat gesehen, dass er die Verhältnisse infrage stellen kann, und er hat diese Macht ergriffen.

Vielleicht ist es das, was ihn zum Helden macht — unabhängig von allen rechtlichen Fragen. Seit Edward Snowden ist es nicht mehr so leicht, über die Verhältnisse nur zu seufzen und die eigene Passivität durch vermeintliche Machtlosigkeit zu entschuldigen. Nicht jeder hat Zugang zu Informationen, die die Welt bewegen. Aber jeder kann seine Stelle finden, um einen Schraubschlüssel in das Räderwerk zu schmeißen: Zu jemandem stehen, der gemobbt wird. Mit jemandem Zeit verbringen, der am Rande der Gesellschaft steht. Das sind die kleinen Heldentaten — die Verhältnisse verändern können auch sie.

Edward Snowden steckt nun fest , ist gestrandet ausgerechnet im Transit. Er hat einer Maschinerie Sand ins Getriebe gestreut, die sich als übermächtig entpuppt.

Er muss das geahnt haben. Und tat es trotzdem.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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