Gesellschaftskunde Warum wir uns nach echten Momenten sehnen

Peer Steinbrücks Gefühlsausbruch weckt Mitgefühl, weil in der modernen Gesellschaft viele Menschen Rollen ausfüllen müssen, die ihnen fremd sind – und das Bedürfnis nach Authentizität wecken.

Peer Steinbrücks Gefühlsausbruch weckt Mitgefühl, weil in der modernen Gesellschaft viele Menschen Rollen ausfüllen müssen, die ihnen fremd sind — und das Bedürfnis nach Authentizität wecken.

Man könnte die Deutschen für ein gefühlsduseliges Volk halten. Kaum bricht einem ansonsten unbeliebten Kanzlerkandidaten beim öffentlichen Smalltalk die Stimme und Tränen schießen ihm in die Augen, schon greift sich die Wählerschaft vereint ans Herz und bekundet gnädig Verständnis für den so viel Gescholtenen. Doch diese Reaktion als kollektive Rührseligkeit zu deuten, greift zu kurz. Es geht in der öffentlichen Wahrnehmung des Steinbrückschen Gefühlsausbruchs auch nicht darum, wie hart das Medien-Geschäft in der Berliner Republik geworden ist oder wie viel Wehleidigkeit die Wähler der politischen Klasse gefälligst zugestehen sollten.

Es geht um den echten Moment, darum dass Zuschauer vor laufenden Kameras beobachten konnten, wie einer die Kontrolle über sein Medien-Ich verlor. Wie seine Selbstinszenierung für Sekunden aussetzte, Menschlichkeit hervortrat, Verletzlichkeit, Authentizität. Es geht darum, wie eine Charaktermaske zerbröckelte.

Tränen sind dafür ein verlässlicher Indikator. Denn Weinen ist ein intuitiver und unmissverständlicher Gefühlsausdruck, der in allen Kulturen verstanden wird. Und es ist allein der Mensch, der weint, das scheidet ihn vom Tier. Nahezu untrüglich ist darum auch des Menschen Gespür dafür, ob Tränen echt sind, ob sie einen cleveren Politiker tatsächlich übermannen. Er registriert, ob Steinbrück hilflos abwinken muss, als seine Gefühle ihm die Stimme ersticken und die Augen übergehen lassen. Darum trauen wir Tränen auch im Medienzeitalter.

Natürlich kann man auch Rührung inszenieren. Das ist regelmäßig in den großen Emotions-Shows zu erleben, mit denen das Fernsehen krampfhaft versucht, am Leben zu bleiben. Die Regisseure von Casting-Formaten spitzen ihre Dramaturgien stereotyp auf finale Tränen zu. Ob sie nun Models auf den Laufsteg jagen, Möchtegern-Musiker auf die Talent-Bühne oder Gesellschaftstänzer aufs Parkett, stets werden am Ende geschasste Kandidaten vor Enttäuschung in Tränen ausbrechen oder die Übriggebliebenen weinen vor Glück. Doch diese Rührung stellt sich so verlässlich ein, dass die Manipulation offensichtlich ist. Der Zuschauer weiß das und geht trotzdem mit. Er kennt das Spiel und genießt es.

Tränen wie die von Steinbrück sind von anderer Qualität. Sie unterspülen die Fassade einer öffentlichen Figur. Das verschafft Sympathie, denn unbewusst spüren viele Menschen in der modernen Gesellschaft, dass sie nur Charaktermasken sind, nur Träger sozialer Rollen, die sie nicht selbst bestimmen können. Diese Ohnmacht empfindet wohl auch Steinbrück, bei dem privates und öffentliches Ich inzwischen so weit auseinander klaffen, dass ihm Tränen gekommen sind.

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(RP/caf)
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