Kolumne: Gesellschaftskunde Warum Menschen sich der Masse anvertrauen

Sich im sozialen Umgang zu behaupten, empfinden manche Menschen als Strapaze. Da kann es erleichternd wirken, sich einer größeren Menge anzuschließen, die nichts von einem verlangt. Außer dabei zu sein.

Wenn in diesen Wochen in Städten wie Dresden, Leipzig oder Düsseldorf Absperrungen auf die Straße geschoben werden, weil Menschen sich zu Protestmärschen und Gegendemos versammeln, ist immer ein wenig Ausnahmezustand. Dann sorgt ein äußerer Grund dafür, dass sich Leute an Plätzen, die dafür normalerweise nicht vorgesehen sind, zu größeren Mengen versammeln. Und in dieser Masse sind die Routinen des Alltags für bestimmte Zeit ausgesetzt. Das lockt.

Es geht dann ein paar Stunden nicht um den Einzelnen, sein Auftreten, seine Entscheidungen, seine Attraktivität. Das Ich hat Pause, es kann die Last der Individualität für eine begrenzte Zeit ablegen, kann unter anderen Menschen sein, ohne sich produzieren und bewähren zu müssen. Das ist nicht Ziel der Leute, die sich zum Protest versammeln, aber es ist ein Effekt, der mobilisieren kann. Denn in Zeiten, in denen Individualismus gepredigt, die Leistung des Einzelnen minutiös erfasst wird und er gelernt hat, sich Misserfolge zuerst selbst zuzuschreiben, kann es erlösend wirken, einfach mal in der Menge aufzugehen.

Der Soziologe Zygmunt Baumann spricht von "manifestem Zusammensein" und schreibt darüber: "In diesem Zusammensein sucht und findet man - oder findet man, ohne zu suchen - eine Beurlaubung von dem ermüdenden und besorgniserregenden, anstrengenden und strapazierenden Glücksspiel der Begegnung". Der Mensch kann nicht alleine leben; ohne soziale Kontakte verkümmert er. Doch zugleich ist er in jeder Begegnung auch der Bewertung ausgesetzt - und die ist in der Konsumgesellschaft gnadenlos. Darum empfinden es viele Menschen als ermüdend, auf dem sozialen Parkett unterwegs zu sein, gute Miene machen und im Ansehen der anderen gut abschneiden zu müssen. Sie sind es müde, sich von außen zu beobachten, ihre Gesten, Gefühle, ihr gesamtes Auftreten kontrollieren zu müssen. Soziales Leben ist Rollenspiel, doch Leichtigkeit hat es verloren.

Vielleicht ist es darum für viele so attraktiv, Fan zu sein. Auch Menschen, die auf dem Weg zum Fußballstadion oder zu einem Popkonzert in den Strom der anderen Fans eintauchen oder Jecke, die sich zur Parade am Straßenrand versammeln, erleben Beisammensein ohne den Zwang zur Selbstdarstellung. Der Einzelne muss sich auf keine Begegnung einlassen, keine Erwartungen erfüllen. Er kann sich gehen lassen, brüllen, tanzen, nach Bonbons grapschen, er ist nur Teil der Menge. In Zeiten, die dem Individualismus huldigen, ist das attraktiv.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin unter kolumne@rheinische-post.de.

(RP)
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