Gesellschaftskunde Warum Kultur kein Luxusgut ist

Wenn Länder in Wirtschaftskrisen geraten, streichen sie oft zuerst die Kunst-Etats. Dabei ist Kultur gerade dann besonders wichtig. Auch, weil sie den Menschen eine Idee von Erhabenheit vermitteln kann.

In Ländern wie Spanien oder Italien stößt man gerade wieder auf ein altbekanntes Missverständnis. Weil die Länder mit der Wirtschaftskrise in der EU unter erheblichen Finanzdruck geraten sind, werden Kultureinrichtungen verkleinert, Programme gekürzt, Spielzeiten entkernt. Als sei Kultur ein Luxus, den man ruhig auch mal entbehren kann, eine Zierde für die guten Zeiten. Und gern werden dann die vermeintlich harten Disziplinen wie Wirtschaft oder Naturwissenschaften gegen die Kunst ausgespielt.

Nun mag es nicht schaden, wenn an manchen altehrwürdigen Kultureinrichtungen Ausgaben geprüft, Gewohnheiten hinterfragt, Selbstverständlichkeiten erschüttert werden. Das kann sogar zu Aufbruch führen, Frischluft in muffige Säle wehen. Doch Strukturreformen in der Kultur sorgen nur dann für Neubeginn, wenn sie getragen sind von einem Grundverständnis für die Notwendigkeit von Kunst in all ihren Spielarten. Von dem Wissen also, dass Kultur kein Gedöns ist, sondern unentbehrlicher gesellschaftlicher Akt.

Der Philosoph Ernst Bloch hat es so formuliert: "Wissenschaft ist radiziertes, Kunst potenziertes Leben." Wissenschaft versucht also, die Wirklichkeit abstrakt zu fassen. "Radizieren" — das Wurzelziehen in der Mathematik — ist ja ein Vorgang, rückwärts zu denken, mithilfe mathematischer Gesetze zu errechnen, woraus eine Zahl entstanden ist. Das ist die Bewegung der Analyse, die dem Menschen helfen kann, seine Umwelt zu verstehen, ihre Gesetzmäßigkeiten zu entdecken und zu nutzen, der Wirklichkeit nicht mehr ausgeliefert zu sein, sondern ihr Herr zu werden und Innovationen zu entwickeln. Und all das ist wichtig. Überlebensnotwendig.

Die Kunst aber potenziert das Leben, sie denkt voraus, spinnt in die Zukunft, gibt dem Menschen eine Ahnung davon, was jenseits der Wirklichkeit liegen könnte. Das können gesellschaftliche Alternativen sein, die in Romanen, im Film oder auf dem Theater durchgespielt werden. Kunst kann aber darüber sogar noch hinausgreifen, kann dem Menschen im ästhetischen Genuss eine Idee von Erhabenheit vermitteln. Und das kann genauso in einem Konzert von Metallica geschehen wie bei Wagners Vorspiel zu "Tristan und Isolde".

Radizieren und Potenzieren — eine Gesellschaft braucht beides. Kulturausgaben sind also genauso kritisch zu prüfen wie alle anderen Ausgaben, die von der Gemeinschaft übernommen werden. Sie stehen aber nicht per se auf der Streichliste. Je tiefer ein Land in die Krise gerät, desto weniger ist Kultur ein Luxusgut.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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