Gesellschaftskunde Warum Gefühlsstürmen im Netz zu misstrauen ist

Frauen klagen über Sexismus, die Parteibasis der Grünen bestürmt Claudia Roth mit Zuneigungs-Kurznachrichten: Das Internet ist ein Medium für Gefühlswallungen geworden – das sollte skeptisch stimmen.

Es braut sich etwas zusammen in der virtuellen Welt. Gefühlsstürme brechen los von Handy zu Handy zu Handy. Im Twitter-Kurznachrichtenformat werden Befindlichkeiten ausgetauscht. Immer öfter ist es zu hören, das Stakkato sich überschlagender Emotionen.

Manchmal strömen da positive Gefühlswallungen zusammen wie beim sogenannten Candystorm zur süßen Stärkung der Grünen-Politikerin Claudia Roth. Die hatte gerade mit dem akuten Liebesentzug ihrer Partei zu kämpfen, als die Basis sie mit freundlichen Kurzbotschaften bestürmte. Meist kumulieren jedoch negative Gefühle, wie jetzt mit den Klagen vieler Frauen über Sexismus im Alltag. Unter dem Stichwort "Aufschrei" haben in den vergangenen Tagen Tausende von Erlebnissen berichtet, die von dummen Anzüglichkeiten im Büro bis zu Vergewaltigungen reichen. Was die Opfer im persönlichen Umfeld nicht auszusprechen wagen, vertrauen sie der virtuellen Öffentlichkeit an – das ist ein seltsames Paradoxon.

Es funktioniert, weil die Anonymität des Internets attraktiv ist. So erweist sich das Netz in diesen Tagen wieder einmal als Schutzraum, in dem Bedrängte und Beleidigte ihre Nöte offenbaren können. Aus dem virtuellen Dickicht rufen sie die Wahrheit in die Welt. Das hat den Arabischen Frühling befördert. Das verhilft Deutschland nun zu einer anscheinend überfälligen Debatte über den Umgang der Geschlechter. Öffentlich machen ist immer der erste Schritt, um einen Missstand zu beheben. Dass Frauen mal erzählen, was ihnen an Konferenztischen so passiert, ist eine gute Sache.

Trotzdem wird man das Gefühl nicht los, dass das Internet nicht nur Schleusen öffnet für das, was gesagt werden muss, sondern diesen Prozessen eine seltsame Eigendynamik gibt. The Medium is the message – das Medium ist die Botschaft: Twitter fordert zum gemeinschaftlichen Massen-Getuschel heraus. So wie Kaffeeküchen Brutstätten für Gerüchte sind, so ist die Wisperei bei Twitter auf die Vervielfachung im Schneeballsystem angelegt. Das Echo echot.

Die Gefühlsstürme im Netz belegen auch, was Philosophen wie Zygmunt Bauman sagen: In der "flüchtigen Moderne" hat der Schwarm die Gruppe ersetzt. Es gibt nicht mehr die Meinungsmacher, denen alle lauschen. Dafür finden im Netz Nachrichten Verbreitung, die das Potenzial besitzen, Schwärme zu mobilisieren. Die gehorchen dann ihrer eigenen Dynamik, potenzieren Stimmungen. Daher das Unbehagen, wenn im Internet die Gefühle losbrechen. Es hat etwas von Zusammenrottung im virtuellen Raum, von Sensationsgeschnatter, und niemand ist da, der prüfen könnte, wie angemessen oder gar wahr die Entrüstung ist.

Deutschland hat bitter lernen müssen, Meinungsführern zu misstrauen. Der Schwarm kommt höchst effektiv ohne Führer aus – zu misstrauen ist ihm trotzdem.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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