Kolumne: Gesellschaftskunde Vom rechten Maß an Selbstkontrolle

Selbstkontrolle ist ein wichtiger Erfolgsgarant, doch sich ewig zu zügeln, strengt an - und macht manche Menschen krank.

Lange hat man gedacht, der wichtigste Faktor für den Erfolg von Menschen sei deren Intelligenz. Die kann auch nicht schaden, aber eine andere Eigenschaft ist neuer Forschung zufolge mindestens ebenso wichtig: Selbstkontrolle. Wissenschaftler von der amerikanischen Florida State University haben herausgefunden, dass Menschen einen großen Teil ihrer Zeit unbewusst damit verbringen, Gelüsten zu widerstehen. Dabei geht es um Bedürfnisse wie Schlaf, Essen, Trinken oder Sex. Die Forscher fanden heraus, dass Menschen nur über ein begrenztes Maß an Selbstkontrolle verfügen. Müssen sie häufig auf etwas verzichten, handeln sie hinterher umso impulsiver. Leichter durchs Leben kommen also Leute, die Versuchungen von vornherein vermeiden, die sich auf langfristige Ziele konzentrieren und ihre Energie nicht darauf verwenden, sich innerlich ständig gegen kurzfristiges Habenwollen zur Wehr zu setzen. Steht keine Schokolade auf dem Tisch, muss man sich auch nicht darauf konzentrieren, sie nicht zu essen.

Ergebnisse solcher psychologischer Studien werden heute begierig aufgenommen. Menschen wollen wissen, wie sie funktionieren, um noch besser funktionieren zu können. Impulsive Entscheidungen etwa machen Mitarbeiter unberechenbar, verringern ihre Zielstrebigkeit und senken das Leistungsvermögen. Also steckt in Studien wie der aus Florida indirekt der Appell, die eigene Psyche auszutricksen, sein Wollen zu kanalisieren, seine Effizienz zu steigern. Selbstoptimierung durch Selbstkontrolle. Menschen, die sich nicht ihren Impulsen überlassen, sondern über den allzu menschlichen Dingen stehen, passen besser in die moderne Arbeitswelt. Kein Übergewicht, keine Zerstreutheit, keine unüberlegten Entscheidungen. Der moderne Mensch ist wohltemperiert und kontrolliert.

Die grassierenden Krankheiten der Gegenwart zeigen, wie viele darunter leiden, sich selbst beständig zu hinterfragen und optimieren zu wollen. Bulimie, Burn-out, Angstzustände: Das sind Krankheiten, die sich aus einem Zuviel an Selbstzügelung, an übersteigerter Selbstkontrolle, an mangelndem Kontakt mit dem eigenen Körper ergeben. Die meisten Menschen heute sind ja nicht unwillig. Sie besuchen Trainings, lesen Ratgeber. Dabei gerät der eigene Körper zum Objekt. Wirklich produktiv kann der Mensch aber nur sein, wenn er nicht auf Distanz zu sich selbst geht, sondern aus dem Vollen seiner Persönlichkeit lebt. Und Versuchungen einfach mal erliegt.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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