Kolumne: Gesellschaftskunde Lust am Rollenwechsel

Von Karneval ist in diesen Tagen oft nur noch als Großereignis die Rede, das die Polizei beherrschen muss. Dabei ist die große Maskerade für viele deshalb ein Fest, weil sie ihre Rolle verändern und für kurze Zeit selbst bestimmen können, wer sie sind.

Nun ist viel von Sicherheitskonzepten, Security-Points, Deeskalationsstrategien die Rede. Und ziemlich wenig vom Spaß an dä Freud. Nach den Ereignissen der Silvesternacht ist das verständlich. Doch Karneval ist eben nicht nur das gefürchtete Großereignis, das Zehntausende zu den Umzügen auf die Straße rufen wird - und damit in diesen prekär gewordenen öffentlichen Raum, den viele nur noch als Sicherheitsrisiko wahrnehmen. Karneval hat auch eine naive Seite; und die hat mit dem Einzelnen zu tun, der sich Schminke kauft und eine rote Nase, und der ein anderer werden will. Karneval ist das einzige Fest, das die Lust des Menschen am Verkleiden feiert, den Spaß am Rollenspiel, am Identitätswechsel.

Sich zu verfremden, komische Sachen anzuziehen, als ein anderer vor die Tür zu treten, ist ein Bedürfnis, dem die meisten Erwachsenen nur im Ausnahmezustand der Karnevalszeit nachgeben. Wer gestattete sich sonst schon, einen Narren aus sich zu machen? Dabei ist das Kostümieren nicht nur Kinderei. Es hat mit Selbstbestimmung zu tun, mit der kleinen Freiheit, wenigstens für ein paar Tage oder Stunden selbst festzulegen, welche Rolle man wählt, welche Verhaltensmuster man mal ausprobiert oder ironisiert. Es geht also keineswegs nur darum, sich im Kostüm unerkannt danebenbenehmen zu können. Sich zu verkleiden, schenkt jenes kleine Hochgefühl, den alltäglichen Ansprüchen, den gewohnten sozialen Rollen und Zwängen, auf kurze Zeit zu entkommen und das neue Ich selbst zu entwerfen. Hübscher, hässlicher, klüger, dümmer, egal - der Einzelne entscheidet.

Und dann zieht er los zur Party und spielt, ein bewunderter Chirurg oder begehrter Pilot zu sein, eine feine Prinzessin oder olle Hexe. Und das ist alles völliger Quatsch - nur Pose, nur Fasching - und an Aschermittwoch rückstandslos vorbei. Man sollte Karneval nicht überschätzen.

Aber es bleibt die Erinnerung an eine Erleichterung. Ähnlich wie nach dem Urlaub, wenn man ein paar Tage losgelöst gelebt hat von all den Erwartungen, die an berufliche Positionen und private Rollen geknüpft sind. Zurück im Job setzt diese Wehmut ein, für gewisse Zeit mit weniger Entfremdung gelebt zu haben, etwas näher an dem gewesen zu sein, was das Selbst sein könnte.

Auch im Karneval kann man dem begegnen, denn gerade in der totalen Verstellung kommt zum Vorschein, wovon ein Mensch träumt, was er abstreift, was er annimmt, was ihn unverwechselbar macht. Egal, welche Maske er wählt.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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