Kolumne: Gesellschaftskunde Gönnen wir uns ein wenig Erdenschwere

Viele Menschen haben Angst, an sich vorbeizuleben, die falschen Schwerpunkte zu setzen. Doch gerade ständige Anpassung an äußere Erwartungen führt in depressive Stimmungen.

Plötzlich ist da ein Gefühl der Leere. Menschen finden nicht in den Schlaf oder sind irgendwann am Tag einfach abwesend, weil sie eine innere Traurigkeit verspüren. Oder weil sie empfinden, dass sie womöglich an den entscheidenden Dingen vorbeileben, sich nicht wirklich entfalten, sich selbst verpassen. Und das wäre das größte anzunehmende Unglück.

Waren es in früheren Zeiten psychologische Erkrankungen wie Hysterie, die eine Epoche markierten, sind es heute eher Erschöpfungs- Symptome bis hin zur Depression. Das hat damit zu tun, dass viele Menschen sich ganz an äußeren Erwartungen orientieren, dass sie all den Ansprüchen an ihr Aussehen, ihre Bildung, ihren Lebensstil genügen wollen und stets befürchten müssen, den aktuellen Standards nicht zu entsprechen. Sie blättern in Modezeitschriften, lesen Familienratgeber, schauen Casting-Shows, vergleichen sich mit ihren Freunden, Nachbarn, Vorgesetzten, sind hochspezialisiert darin, genau zu wittern, wie man sein muss, um heute dazuzugehören. Doch je mehr sie sich flexibel zeigen, all diesen äußeren Ansprüchen zu genügen, und noch die kleinste Wende im Life-style mitzuvollziehen, desto nervöser werden sie. Und das kostet Energie. Das erschöpft. Das wirft irgendwann die Frage auf, wofür man eigentlich lebt.

Durch Anpassung wird man auf diese Frage jedoch keine Antwort finden. Lebenssinn findet nur, wer sich an bestimmten Punkten im Leben entscheidet, wer sich auf ein Ziel festlegt. Das bedeutet natürlich immer auch ein Risiko. Das bedeutet, privat wie beruflich, mögliche Optionen zu verpassen. Doch nur so gewinnt der Mensch an Substanz und kann irgendwann sagen, wofür er steht, woran ihm etwas liegt, wofür er lebt.

Vor allem kann sich der Mensch das selbst sagen, denn die bohrendsten Fragen stellt sich das Ich ja selbst. Und ist oft so ungnädig mit den Antworten. Das Selbst wird immer empfindsamer in unserer Zeit - vor allem, um Versagen aufzuspüren und schnell zu korrigieren. Wie befreiend ist es dagegen, nicht alles mitzumachen, sich selbst auch mal ein Nein zu bestimmten Ansprüchen zuzugestehen. Das macht vielleicht kantiger, das reduziert die Zahl der Bewunderer, aber nicht die Zahl an wahren Freunden.

Von vielen Menschen werden hohe Flexibilität und stets wache Anpassung gefordert. Doch wer das Spiel zu virtuos betreibt, verliert sich selbst und öffnet sein Inneres der Leere. Gönnen wir uns ein wenig Erdenschwere und Sperrigkeit, das hilft beim Leben.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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