Gesellschaftskunde Keine "German Angst" einreden lassen

Die Deutschen sind berüchtigte Fortschrittsskeptiker. Dabei ist es nur nachvollziehbar, wenn globale Entwicklungen vielen Menschen als unbeherrschbar erscheinen - und Skepsis wecken.

Gesellschaftskunde: Sich keine "German Angst" einreden lassen
Foto: Krings

Meist ist davon ja in diesem ungläubig-tadelnden Ton die Rede: Viele Deutsche haben Angst vor der Zukunft. Selbst wenn sie einen sicheren Job und ein eigenes Haus haben und sich aufregende Urlaube leisten können, empfinden sie doch, dass das alles auf tönernem Grund stehen könnte und machen sich Sorgen über die Zukunft ihrer Kinder.

Man kann das als "German Angst" abtun, als die Übervorsicht der Besitzenden, die gerade darum skeptisch in die Zukunft blicken, weil sie etwas zu verlieren haben. Zur Untermauerung dieser These werden dann gern Glücksstudien zitiert, in denen regelmäßig arme Menschen aus Entwicklungsländern besonders glücklich abschneiden.

Das Unbehagen, das viele Deutsche empfinden, ist jedoch nur scheinbar ein individuelles Problem. Deutschland ist kein Land irrationaler Pessimisten. Vielmehr gibt es immer mehr kritische Themen, die hinter Schlagworten wie Klimawandel, Finanzspekulation, künstliche Intelligenz verschwinden und deren Auswirkungen schwer zu kalkulieren sind. Darüber mögen sich Menschen, die täglich um ihr Überleben kämpfen, weniger Gedanken machen können, aber es ist keineswegs hysterisch, wenn man auf die schwer absehbaren Nebenwirkungen der Moderne mit diffusem Unbehagen reagiert.

Es gibt eben kein Sensorium für globale Risiken. Der gesunde Menschenverstand hilft beim Nachdenken über Risiken der Reproduktionsmedizin oder des Klimawandels nicht weiter. Wenn Menschen sich also hinter Skepsis verschanzen, sind sie nicht irrational, sie reagieren nachvollziehbar auf Gefahren, deren Ausmaß sie nicht kennen.

Fortschritt ist längst eine globale Dynamik und so haben auch die Nebenwirkungen dieses Fortschritts globale Dimensionen. So kommt es, dass Menschen bei immer mehr brisanten Themen das Gefühl haben, die Konsequenzen nicht zu überblicken. Und die Experten und Politiker in Wahrheit auch nicht. Dann geschieht eine Reaktorkatastrophe wie in Fukushima, die deutsche Politik reagiert mit ihren Mitteln, steigt aus der Atomenergie aus und gleich hinter der Grenze zu Belgien werden marode Meiler weiterbetrieben.

Natürlich löst das Ängste aus. Und zwar nicht nur vor der Strahlung, sondern auch, weil wir begreifen, dass die Werkzeuge zur Gestaltung unserer Wirklichkeit viel zu mickrig sind. Natürlich hilft es nicht, sich verrückt zu machen. Das Gerede von der "German Angst" ist aber auch nur der Versuch, berechtigte Bedenken als individuellen Mangel an Zukunftsbegeisterung abzutun.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(dok)
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