Gesellschaftskunde Fußball ist mehr als ein Spiel

Das Spiel der Deutschen heute Abend ist ein Massenereignis - eine kollektive Erzählung, von denen es nicht mehr viele gibt und an der wir alle mitschreiben.

Nun fühlen sich die Tage also wieder feierlicher an. Der Ball rollt, die Nationen kämpfen im sportlich-mentalen Leistungsvergleich - der schnöde Alltag strebt wieder auf etwas zu. Und ist darum nicht mehr nur noch Alltag.

Auch heute ist das so. Der Termin schimmert durch den Tag: 18 Uhr, die Deutschen müssen ran, Fortsetzung all der Heldengeschichten, an denen wir mitdichten durch unsere Wünsche, Erwartungen, unser Wissenwollen und Weitererzählen. Denn wenn Anpfiff ist, geht es natürlich ums Gewinnen, den Sport, das Drama auf dem Platz. Aber es geht auch um Charakter-Studien. Um Figuren, von denen wir uns in diesen Tagen ein Bild formen und deren Schicksal wir verfolgen. Um den Alleskönner Philipp Lahm etwa, dem plötzlich nichts mehr gelingt - um die Moral eines Erfolgsverwöhnten also. Oder um Thomas Müller, der noch aussieht wie einer dieser Bolzplatz-Jungs von früher, als der Fußball noch kein Milliardengeschäft war, und der dann die Tore so eigenwillig aus dem Raum zaubert.

Das Schicksal dieser Spieler, die Höhen und Tiefen, die sie auf dem Rasen durchlaufen, ist ein Drama, an dem die ganze Welt teilhat. Eine kollektive Erzählung. Und davon gibt es nicht mehr viele. Wann schauen Menschen schon noch abends denselben Film im Fernsehen oder gehen in dasselbe Theaterstück? Wann können sie sich also austauschen, über ihre Empfindungen, ihre Hoffnungen und Enttäuschungen bei einem gemeinsamen Erlebnis?

Der Fußball schafft dieses vereinigte Publikum noch, er liefert Gesprächsstoff für Pendlerfahrten und Kantinenbesuche, er versammelt Freunde und Familien vor dem Bildschirm und schickt sie gemeinsam ins Wechselbad der Gefühle. Das stiftet Gemeinschaft, mag das auch oberflächlich sein, wer gemeinsam brüllt, nicht hingucken kann, flucht und jubelt, wer gemeinsam Gefühle durchlebt, Freude teilt, Kummer bewältigt, der fühlt sich verbunden. Und der kann am nächsten Tag seine Sicht auf das Spiel und die Spieler mit anderen teilen.

Auch wenn es dann vordergründig um einzelne Spieler geht, um den "alten" Klose oder den stürmischen Schweinsteiger oder den verlässlichen Lahm, geht es immer auch um ein bisschen mehr. Um das Gültige ihrer Geschichten, um ihre Haltung, ihre Fantasie, ihre Leidenschaft, ihre Ausdauer, ihren Fleiß, ihren Teamgeist, ihre Ängste, ihre Verzagtheiten, ihr Missgeschick. Es geht um all das, was auch im Leben jenseits des Platzes zählt. Denn natürlich ist Fußball mehr als ein Spiel.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort