Gesellschaftskunde Der November – ein unterschätzter Monat

Als trübster Monat des Jahres ist der November vielen Menschen verhasst. Dabei rückt er mit seinen Totengedenktagen unsere Maßstäbe zurecht – und kann den Lebenden so Gelassenheit schenken.

Als trübster Monat des Jahres ist der November vielen Menschen verhasst. Dabei rückt er mit seinen Totengedenktagen unsere Maßstäbe zurecht — und kann den Lebenden so Gelassenheit schenken.

Nun stehen wir also an der Schwelle zum Fürchtemonat November, der den Tagen das Licht entzieht, sich noch zu keiner klärenden Kälte durchringen kann, daher aufs Gemüt drückt mit seinen Nebeln, tiefen Wolkendecken, seinem Todesgedenken. Denn eigentlich ist es doch das, was den November zum trüben Verlierer unter den Monaten hat werden lassen, zur laubbraunen Vergänglichkeitsphase, in der die Natur Farbe und Kraft verliert, Bäume sich in kahle Himmelskrallen verwandeln und der Mensch nicht umhin kann, an die eigene Sterblichkeit zu denken.

Das aber ist die Urquelle aller menschlichen Ängste. Das meinte schon Sigmund Freud, als er die drei Leiden benannte, die den Einzelnen bedrohen: körperlicher Verfall, zerstörende Kräfte in der Außenwelt und in Beziehungen. Alle drei Leiden sind Formen des Sterbens: Krankheit und Naturgewalt bedrohen das Dasein, und die Trennung von einem geliebten Menschen ist ein Tod, mit dem man weiterlebt.

Aus der unabänderlichen Bedrohung der menschlichten Existenz formt jede Zeit allerdings ihre eigenen Ängste. Aus der Angst unserer Urahnen vor Gewitter wurde im Laufe der Jahrhunderte die Angst vor der Pest, wurde Angst vor dem allmächtigen Fürsten, wurde Angst vor der Willkür des Fabrikbesitzers. Gegen all das haben naturwissenschaftlicher, medizinischer und staatsrechtlicher Fortschritt zumindest hierzulande Absicherung gebracht.

Dafür hat die Industrialisierung mit ihren Arbeitsanforderungen und Entlohnungsmechanismen dem modernen Menschen die Angst eingehandelt, nicht der Norm zu entsprechen. Geblieben ist die Furcht, in Leistung, Aussehen, Selbstverwirklichung von jenem Stand abzuweichen, den die Mehrheit in der Massengesellschaft zum Standard erklärt.

Es tut gut, sich ab und zu klar zu machen, dass es die zutiefst menschliche Todesangst ist, deretwegen wir uns mit Vordergründigem so verrückt machen. Mit der Angst, im Beruf nicht zu genügen, den Freunden nicht zu gefallen, keine souveränen Eltern zu sein.

Der November mit seinem Sterblichkeits-Outfit kann uns sanft ermahnen, all diese Versagensfurcht und Selbsthinterfragung nicht zu groß zu machen. Am Ende werden andere Dinge zählen, als das Lob vom Chef, die Größe des Autos, die Schulzeugnisse der Kinder. Wir wissen das. Und doch braucht der Mensch ab und zu die Erinnerung, seine Maßstäbe zu überdenken. Und freundlicher zu sich zu sein. Eigentlich meint es der November mit seinem Grabesnebel und Knochenklappern also doch gut mit uns.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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