Kolumne: Gesellschaftskunde Das Leben ist nicht planbar

Es geht immer öfter nur noch darum, seinen Lebenshunger zu stillen. Aus dem Zwang zur Selbstkontrolle ist der Drang zur Selbstentfaltung geworden. Das ist Befreiung und Belastung zugleich.

Als die Gegenwart noch überschaubarer wirkte, die Dörfer und Betriebe klein waren und die Lebenswege erwartbar, unterlag der Einzelne noch strengen moralischen Regeln. Bürgermeister und Pfarrer hatten das Sagen im Ort. Wer nicht anecken wollte in der Gemeinschaft, hatte Charakter zu beweisen.

Heute ist das anders. Heute muss sich der Einzelne als Persönlichkeit bewähren. Das ist ein fundamentaler Wandel, denn Persönlichkeit ist keine moralische, sondern eine psychologische Kategorie. Es geht also nicht mehr vor allem darum, sich den strengen Regeln der Lebensführung anzupassen und moralisch unauffällig zu bleiben, sondern darum, die neuen Freiheiten zu nutzen, um ein möglichst intensives, abwechslungsreiches und spannendes Leben zu führen - am besten eines, das andere beeindruckt, das Lebenshunger stillt. Aus dem Zwang zur Selbstkontrolle ist der Drang zur Selbstentfaltung geworden. Das ist für viele Befreiung und Belastung zugleich.

Denn die persönliche Erfüllung ist bei wachsenden Ansprüchen so leicht nicht zu erreichen. Es steht ja nicht einmal fest, worin sie besteht: Kinder bekommen oder lieber ungebunden seine Freiheiten ausleben, auf das Reihenhäuschen sparen oder lieber das Jobangebot in China annehmen? Die Möglichkeiten sind enorm, die Glücksversprechen zahlreich. Doch es bleibt allein dem Einzelnen überlassen, seine Maßstäbe zu finden, festzulegen, was ein gutes Leben sein könnte, und dem nachzueifern.

Dabei wird auch die Orientierung zur Aufgabe. Viel mehr als früher leben Menschen heute in wechselnden Beziehungen. Und mit jeder neuen Begegnung treffen sie auf neue Lebensentwürfe und Wertmaßstäbe, mit denen sie sich vergleichen können. Das kann anregend sein - aber auch zu Schwierigkeiten führen. Vor allem dann, wenn Menschen diesem oder jenem vermeintlich überzeugenden Lebensziel nachjagen, Frustrationen anhäufen, das eigene Leben im Vergleich mit dem idealisierten anderen nicht mehr befriedigend finden.

Mit der neuen Freiheit in der Lebensgestaltung ist auch die Aufgabe entstanden, das eigene Tun beständig zu reflektieren, sein Leben "zu planen" und seine Pläne immer wieder kritisch zu prüfen. Dafür gibt es Ratgeber, Hilfe von Mentoren, Coaches, Therapeuten. Manchem geht dabei die Gelassenheit verloren, jede Leichtigkeit des Seins.

Dabei lässt sich im Leben nicht alles planen. Und was man erzwingt, entpuppt sich häufig als wenig segensreich.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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