Kolumne: Frauensache Der Zynismus im Umgang mit dem Altern

Der Debatte um den demografischen Wandel fehlt vor allen Dingen die Ehrlichkeit. Zynismus im Umgang mit dem Altwerden hilft niemandem weiter.

In Belgien ist der Umgang mit dem Leben ein selbstgefälliger, manche würden sagen ein selbstbestimmter: Seit 2002 ist dort die Tötung auf Verlangen gesetzlich erlaubt. Wer sich in einer medizinisch ausweglosen Situation befindet, die ein psychisches oder physisches Leid verursacht, das nicht zu lindern ist, kann aktive Sterbehilfe in Anspruch nehmen. Von diesem Recht macht nun Frank Van den Bleeken Gebrauch. Er sitzt wegen Vergewaltigung und Mord seit mehr als 20 Jahren in Sicherungsverwahrung. Er selbst betrachtet sich als Gefahr, sagt, er könne seine Sexualität nicht kontrollieren. Eine Unterbringung in einer niederländischen Spezialklinik, wo es einen Therapieplatz gegeben hätte, lehnte die belgische Justiz ab. Seinen Antrag auf Sterbehilfe nicht. Die Begründung: Sein Leiden sei unerträglich. Allerdings wurden gar nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, dieses Leiden zu lindern. Und so offenbart das Urteil ein zynisches Menschenbild - es propagiert ein sozialverträgliches Frühableben.

Dieser Begriff war Ende der 90er in Deutschland das Unwort des Jahres. Zwar ging die hiesige Debatte nicht um Sterbehilfe, sehr wohl aber um den Wert des Lebens: Wie wollen wir als alternde Gesellschaft mit unseren Alten umgehen? Der damalige Ärztekammerpräsident hatte in Bezug auf die Gesundheitspolitik der Bundesregierung gesagt: "(...) dann müssen wir insgesamt überlegen, ob diese Zählebigkeit anhalten kann, oder ob wir das sozialverträgliche Frühableben fördern müssen." Wenige Jahre später wollte Philipp Mißfelder älteren Menschen künstliche Hüftgelenke verweigern.

Der Zynismus im Umgang mit dem Altern der Anderen steht in krassem Gegensatz zu den eigenen Sehnsüchten: Nahezu jede wünscht sich, in seinem Zuhause alt zu werde und auch dort zu sterben. Die Wirklichkeit ist eine andere, die meisten Todesfälle ereignen sich in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Das hat auch mit veränderten Familienstrukturen und sinkenden Geburtenzahlen zu tun. So werden heute nur noch 50 Prozent der Pflegebedürftigen von Angehörigen gepflegt, 1995 waren es noch 85 Prozent.

Eines aber ist geblieben: Pflege ist Frauensache. Als Vorsorgemaßnahme für das eigene Lebensende empfiehlt der renommierte Mediziner Gian Domenico in seinem Buch "Über das Sterben" daher, "mindestens eine, möglichst aber mehrere Töchter zu zeugen". Das kann man provokativ finden, oder gar frauenverachtend. In jedem Fall aber wagt Domenico etwas, was in der Debatte um den demografischen Wandel fehlt: Ehrlichkeit.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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