Kolumne: Berliner Republik Warum der Wähler gerne Denkzettel verteilt

Eine spezielle Form der Demokratie-Ausübung zeigt sich in der Denkzettel-Wahl. Wohl dosiert dokumentiert der Wähler damit seine Unzufriedenheit.

Über die niedrige Wahlbeteiligung, insbesondere bei den Landtagswahlen der vergangenen Wochen, kann und muss man ausgiebig klagen. Schlau ist der wahlberechtigte Bürger dennoch - zumindest der, der den Weg ins Wahllokal findet. Denn nicht selten steckt er mit dem Wahlzettel auch einen Denkzettel in die Urne.

Der enorme Auftrieb der Alternative für Deutschland (AfD) bei den drei Landtagswahlen in diesem Sommer im Osten darf als Denkzettel an die etablierten Parteien gewertet werden, die Ängste der Menschen vor Einbrüchen, ungeregelter Zuwanderung und einem Verfall des Euro ernst zu nehmen. Wenn der Wähler wirklich wollte, dass diesen Ängsten mit den Angeboten der AfD begegnet würde, hätte es sie mit noch mehr Stimmen ausgestattet. Das ist bei einem erheblichen Teil der AfD-Wähler aber nicht der Fall. Sie wollen aber, dass über die Themen, die ihnen auf den Nägeln brennen, offen gesprochen wird und dass die Politik ihre Ängste ernst nimmt. Also verpassen sie den etablierten Parteien einen Denkzettel.

Während die meisten Wähler die Bundestagswahl ernst nehmen, was auch an der relativ guten Wahlbeteiligung abzulesen ist, kreuzt man bei Landtagswahlen und Entscheidungen über das Europaparlament auch gerne mal eine Partei an, mit der man seinen Unmut bekundet.

Zwei Beispiele dazu, die für einen Beitrag in einem Lehrbuch "praktische Politik" dienen könnten: Nur wenige Monate, nachdem Gerhard Schröder als Kanzler voller Chaos mit seinem ersten rot-grünen Projekt 1998 startete, erhielt er bei der Europawahl 1999 einen ordentlichen Denkzettel. In einer ersten Reaktion sagte Schröder den oft zitierten Satz: "Wir haben verstanden." Danach begann er seine Basta-Politik, mit der er zumindest den rot-grünen Hühnerhaufen sortierte.

Beispiel zwei spielt 2010 in NRW: Auch die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Merkel legte einen glatten Fehlstart hin. Es gab Dauerzoff um Steuern, Gesundheit und Atompolitik. Die Taktik von Schwarz-Gelb auf Bundesebene, ein halbes Jahr lang möglichst keine relevanten Entscheidungen zu treffen, um die damalige Regierung von CDU und FDP in NRW nicht zu gefährden, ging nicht auf. So schlichte Taktiken durchschauen die Wähler und machen aus dem Wahlzettel einen Denkzettel.

Auch parteiintern funktioniert das Prinzip sehr gut. Parteivorsitzende und ihre Stellvertreter können am besten ihr Standing in der Partei messen, wenn sie sich bei einem Parteitag zur Wiederwahl stellen. Wer weniger als 80 Prozent Zustimmung bekommt, darf dies als Denkzettel werten.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort