Berliner Republik 1966, 2005, 2013 — das Muster der großen Koalition

Berlin · Große Koalitionen waren stets Konflikt- und Krisenbewältiger, aber nur selten Reformbündnisse. Industrieverbände und Gewerkschaften schätzen sie deshalb. Steuer- und Beitragszahler eher weniger.

Parteichefs unterzeichnen Koalitionsvertrag
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Große Koalition, große Ziele, sagt die Kanzlerin. Große Koalition, große Kompromisse ist die Realität, die sich in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland belegen lässt.

Bündnisse von Union und SPD mögen im Wahlvolk beliebt sein, der Gedanke an breite Mehrheiten lässt offenbar wegweisende Politik möglich erscheinen. In Wirklichkeit stehen die Bündnisse der Jahre 1966, 2005 und wohl 2013 für eine seltsame Mischung aus gesamtgesellschaftlicher Konsenspolitik, die mutige Politik und reformerischen Aufbruch zur Ausnahmeerscheinung degradiert und staatliche Ausgabenpolitik zum Muster politischer Kultur umdeuten lässt.

1967 standen Union und SPD vor einem ersten wirtschaftlichen Abschwung. Prompt ersannen Kanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) und Vizekanzler Willy Brandt (SPD)die "Konzertierte Aktion" — ein frühzeitliches Bündnis für Arbeit mit Gewerkschaften und Arbeitgebervertretern, in dem staatliche Programme beschlossen wurden.

Gewerkschaften und Großindustrie, traditionell bei SPD und Union stark vertreten, profitierten von dem Bündnis. Künftige Steuer- und Beitragszahler eher nicht, die Verschuldung des Landes stieg. Doch weil die Konjunkturprogramme zumindest kurzfristig wirkten, war der Glaube an die politische Planbarkeit des wirtschaftlichen Erfolgs fortan in der großen Koalition verankert.

2007, in der Koalition Angela Merkel/Franz Müntefering war die keynesianische Hand erneut rasch sichtbar, als es um Konjunkturpakete, Abwrackprämien und Kurzarbeitergeld ging. Gewerkschaften und Industrieverbände jubelten erneut. Nun kommt die große Koalition, Teil drei, und die Äußerungen aus dem Gewerkschafts- und Industrielager sind wieder auffallend positiv. Es war SPD-Chef Sigmar Gabriel, der bei der Pressekonferenz mit Merkel und Horst Seehofer vergangene Woche freimütig einräumte, dass der Mindestlohnvorschlag der künftigen Koalitionäre eins zu eins dem Vorschlag der Gewerkschaften entstammt. Dass aus der "Solidarrente" der SPD und der "Lebensleistungsrente" der Union im Koalitionsvertrag die "solidarische Lebensleistungsrente" wurde, ist auch ein Beispiel dafür, wie schnell sich Union und SPD einig werden, wenn man gemeinsam Geld ausgeben darf.

Immerhin: Große Koalitionen können Großes bewirken, wenn die Einsicht in politische Notwendigkeiten mit externen Krisensymptomen einhergehen, wie bei der Einführung der Rente mit 67. Nur kann man sich die Krise als Antreiber von Koalitionen ja nicht wünschen.

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(brö)
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