Bei Klimawandel und Corona Der neue Glaube an die Wissenschaft

Analyse | Düsseldorf · Bürgerproteste gegen Atomkraftwerke haben einst Erkenntnisse der Kernphysik infrage gestellt. Jetzt versammeln sich die Klimaschützer und Gesundheitspolitiker hinter der Forschung, um Zweifler zu isolieren. So viel Wissenschaftsgläubigkeit ruft auch Kritik hervor.

  Ein Spaziergänger zeichnet sich vor der untergehenden Sonne ab. Die Weltwetterorganisation (WMO) vermutet, dass 2020 eines der drei wärmsten Jahre seit Aufzeichnung von meteorologischen Statistiken ist.

Ein Spaziergänger zeichnet sich vor der untergehenden Sonne ab. Die Weltwetterorganisation (WMO) vermutet, dass 2020 eines der drei wärmsten Jahre seit Aufzeichnung von meteorologischen Statistiken ist.

Foto: dpa/Julian Stratenschulte

Der jüngste Bericht der Weltwetterorganisation ist eindeutig. Auch das Jahr 2020 dürfte zu den drei wärmsten seit der systematischen Aufzeichnung von Klimadaten zählen. Von Januar bis Oktober lagen die von Meteorologen ermittelten Wärmemaße zwischen 1,11 und 1,23 Grad über dem Schnitt der Jahre von 1850 bis 1900. Und am Nordpol übertrafen die Temperaturen sogar ihren langjährigen Schnitt zwischen 1981 und 2010 um fünf Grad. .

Ein klarer wissenschaftlicher Befund und Futter für die weltweite Klimabewegung, die zuletzt durch die populistischen Präsidenten Donald Trump (USA) und Jair Bolsonaro (Brasilien) in die Defensive geraten war. Immerhin haben klimabewegte junge Leute von San Francisco bis Sydney in ihrem Kampf einen starken Verbündeten: die vorherrschende Meinung der Klimawissenschaft, aber auch anderer Bereiche der globalen Forschung. Vor allem die im UN-Weltklimarat IPCC zusammengeschlossenen Experten werden nicht müde, auf die drastischen Folgen der Erderwärmung hinzuweisen, wenn die Weltgemeinschaft den Ausstoß des Klimakillers Kohlendioxid nicht ausreichend reduzieren kann.

Für die jungen Menschen, die sich bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie in kreativen Schulstreikaktionen für mehr Klimaschutz starkmachten, machten, sind die Wissenschaftler des IPCC, in Deutschland vor allem durch das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung vertreten, fast so etwas wie Helden. „Vereinigt euch hinter der Wissenschaft“, rief die Ikone der Klimaschutzbewegung, die schwedische Schülerin Greta Thunberg, aus. Ihr und ihren Mitstreitern ging es vor allem darum, mit wissenschaftlichen Erkenntnissen die Politik unter Druck zu setzen. „Man kann nicht mit der Physik um Abkommen feilschen“, brachte die Stockholmer Aktivistin ihren Ansatz auf den Punkt.

So viel Wissenschaftsgläubigkeit ruft auch Kritik hervor. „So wichtig und ernst die Absicht ist und auch so völlig legitim, so bedenklich kann man finden, dass auf diese Weise ganze Komplexe von Wertentscheidungen invisibilisiert werden“, also unsichtbar gemacht werden, moniert Peter Strohschneider, der langjährige Präsident von Wissenschaftsrat und Deutscher Forschungsgemeinschaft in seinem kürzlich erschienenen Buch „Zumutungen“. Dort unterzieht er das Wissenschaftsverständnis der Klimabewegung, aber auch der Corona-Gesundheitspolitik einer kritischen Prüfung. Sein Befund: Wissenschaft wird als abgeschlossene Ordnung unbestreitbarer Fakten aufgefasst, denen „so allgemein wie unmittelbar normative Verbindlichkeit zukommen soll“. Im Klartext: Was die Wissenschaft als bedenklich ansieht, müssen die Politiker unmittelbar umsetzen.

Es geht Strohschneider nicht darum, die Erkenntnisse der Klimaforscher als absurd darzustellen oder sie grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. Er kritisiert den Automatismus und die Vorstellung, dass Politiker nur noch Erfüllungsgehilfen allwissender Forscher sein dürfen. Dem widerspricht die grundlegende Annahme der Wissenschaftstheorie, dass alle Erkenntnis nur vorläufig ist. Die Forschung verläuft in einem ganz ähnlichen Prozess wie die Demokratie, in dem im Wettstreit der Ideen, Studien und Ergebnisse und der gegenseitigen Kritik das Wissen erweitert wird.

Die Hinwendung zum vermeintlich festen Fundament der Wissenschaft ist zudem einigermaßen neu in Bewegungen der kosmopolitisch-liberalen Linken. Die Bürgerinitiativen, die in den 70er- und 80er- Jahren gegen Atomkraftwerke, Gentechnik und bisweilen auch Computertechnologie zu Felde zogen, versuchten gerade, die Gewissheiten der Forscher auf diesem Gebiet zu erschüttern. Sie kritisierten die Null-Fehler-Technologie und die Beherrschbarkeit radioaktiver Abfälle als Anmaßung und Arroganz der Wissenschaft.

Der Satz „Die Atomenergie ist beherrschbar und ungefährlich“ hat eine ganze Generation von Naturwissenschaftlern geprägt, bevor er – zumindest in Deutschland – komplett demontiert wurde. Inzwischen wollen selbst Konservative und Liberale von der einstigen Wundertechnologie, die alle Energieprobleme löst, nichts mehr wissen.

Das mag bei Klimafragen anders sein. Nach der großen Mehrzahl der bisherigen Erkenntnisse stellt die Erderwärmung tatsächlich eine ernste und gut begründete Bedrohung der menschlichen Zivilisation dar. Aber damit umzugehen, ist dem demokratischen Prozess oder der internationalen Diplomatie vorbehalten. Letztlich müssen die gewählten Vertreter der Bevölkerung zwischen den Folgen des Klimawandels und den ökonomischen und sozialen Kosten abwägen.

Ganz ähnlich ist die Rolle der Wissenschaft in der Corona-Pandemie. Wichtige Forscher wie der Virologe Christian Drosten oder der Physiker und Epidemiologe Michael Meyer-Hermann haben derzeit großen Einfluss auf die Politik. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) spricht gar vom „Primat der Medizin“. Hier dankt Politik ab, die nach einhelligen Bekundungen der gewählten Mandatsträger weiterhin das Heft in der Hand behalten will. Übrigens wünschen das auch viele Wissenschaftler, die ihre Rolle schon als viel zu stark empfinden und darauf verweisen, dass sie nur für ihr enges Fach sprechen könnten.

In Zeiten großer Krisen, so der Berliner Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel in einem „FAZ“-Beitrag, gibt es eine Sehnsucht nach der Wissenschaft „als neuem Philosophenkönig, der sittlich wie kognitiv auf der Höhe der Probleme am besten durchregiert“. Dem setzt er „die Schleuse des Parlaments“ entgegen, dem allein die Bürger Folge leisten müssten, weil sie ihm ihren politischen Willen übertragen haben.

Das Buch Peter Strohschneider: Zumutungen. Wissenschaft in Zeiten von Populismus, Moralisierung und Szientokratie. 2020, Kursbuch-Edition, 288 S.

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