Pressestimmen zur Sondierung "Kein Leitgedanke, keine Grundidee, kein Aufbruch sichtbar"
Die Einigung von Union und SPD bei den Sondierungsgesprächen 2018 ist von vielen Zeitungen in Deutschland kommentiert worden. Wir werfen einen Blick in die Meinungsspalten.
Rheinische Post: "Die Themen sind die richtigen, auch die Ziele für eine schnellere Digitalisierung und bessere Bedingungen für junge Familien stimmen. Doch so richtig verstanden haben die drei Parteichefs leider nicht. Sie wiederholen den Fehler von vor vier Jahren und beschließen unmäßige Ausgabenprogramme."
Hannoversche Allgemeine Zeitung: "Das 28-Seiten-Papier bietet vieles, was vielen Menschen wirklich weiterhilft: Tarifbindung und mehr Geld für die Pflege. Paritätische Finanzierung der Krankenversicherung. Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule und auf Rückkehr in Vollzeitarbeit. Senkung des Solis. Solidarrente. Kein Wunder, dass sich die Verhandlungen der Sondierer um einige Stunden in die Länge gezogen haben - sie haben in viereinhalb Tagen mehr angestoßen als sonst in einem Jahr. Das bedeutet nicht, dass alles an diesem Papier gelungen wäre. Der Aufbruch nach Europa ist mehr Rhetorik als Überzeugung, das Abrücken von Klimazielen ein schmerzhafter bis verantwortungsloser Rückschritt und die hasenfüßige Flüchtlingspolitik eine Reaktion auf das Erstarken der Rechten in Deutschland. Aber das ist das Wesen von Kompromissen: Ihre Ergebnisse sind nie perfekt."
General-Anzeiger (Bonn): "Es ist ein Kompromiss und er hat die Kleinteiligkeit, die solche Verhandlungsergebnisse wohl haben müssen. Ein wenig ist zu erkennen, dass die Verhandler sich mühten, so etwas wie eine Vision in das Gründungsdokument der neuen großen Koalition zu bringen. Das ist ihnen nicht gelungen, denn genau daran fehlt es dieser Verbindung, die vor allem Teile der SPD gar nicht wollen. Hier schließen Partner eine Vernunftehe, weil es eben nicht anders geht. Das Ergebnis einer langen Nacht ist voller Details und grundsolide. Schließlich musste jeder etwas abbekommen, damit die eigene Anhängerschaft zufrieden sein kann. Das alles ist nicht besonders aufregend, aber es bedient perfekt eine weit verbreitete Mentalität der Republik, abrupte Veränderungen zu meiden."
Frankfurter Rundschau: "Lieblingsprojekte wie die Bürgerversicherung oder höhere Steuern für diejenigen mit sehr hohen Einkommen und auch die vom SPD-Vorsitzenden Martin Schulz im Wahlkampf immer wieder geforderte Abschaffung der sachgrundlosen Befristung konnten die Sozialdemokraten in den Sondierungsgesprächen nicht durchsetzen. Dennoch konnten sie zählbare Erfolge erzielen, die das Leben vieler Menschen verbessern können. Arbeitgeber sollen wieder genauso viel zur gesetzlichen Krankenversicherung beitragen wie Arbeitnehmer. Die Rente soll für alle stabilisiert werden. Doch es wird nicht ausreichen, um die SPD-Mitglieder von einem Bündnis zu begeistern, das viele von ihnen nicht mehr wollen. Die SPD-Führung hat also noch viel Arbeit vor sich, um die eigenen Mitglieder zum Mitmachen zu bewegen."
Aachener Zeitung: "Es wäre Aufgabe und Pflicht der gewählten Abgeordneten, dafür zu sorgen, dass die Republik endlich eine Regierung bekommt. Aber ihnen fehlt Selbstbewusstsein und das angemessene Selbstverständnis als Parlamentarier. Sie lassen sich ihre ureigene Aufgabe, über Koalitionen zu debattieren und zu entscheiden, einfach aus der Hand nehmen. Diese Verantwortung können Parlamentarier aber nicht an Parteigremien oder -mitglieder delegieren. Die Realität bundesdeutscher Politik sieht anders aus. Trotzdem darf man an die bewährten Prinzipien der repräsentativen Demokratie erinnern, auch wenn das als altmodisch gilt."
Mannheimer Morgen: "Am Ende der Sondierungen blieb nicht viel übrig von den gesundheitspolitischen Forderungen der SPD. Der Einstieg in die Bürgerversicherung war mit der Union schlicht unmöglich. Ein Kernanliegen aber konnten die Sozialdemokraten durchsetzen: die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Krankenkassen. Diese ist richtig und wichtig aber nicht zukunftsweisend."
Schwäbische Zeitung: "Es gibt sie noch, die guten Überraschungen. Die Sondierer haben sich 24 Stunden lang gequält, die Kanzlerin hat länger verhandelt als über das Minsker Friedensabkommen, und das Ergebnis ist überzeugend. Die Chancen einer neuen großen Koalition werden beherzt genutzt: mehr Gerechtigkeit, mehr Investitionen und Schnelligkeit bei der Gestaltung der Zukunft und der Sicherheit, vor allem aber ein neuer Anlauf für Europa."
Nürnberger Nachrichten: "Mit den beteiligten Akteuren war mehr wohl wirklich nicht machbar. Das Paket wäre eine Art Notlösung; es könnte den momentan noch erträglichen, auf längere Zeit jedoch unhaltbaten Zustand beenden, dass Deutschland ohne kräftige Regierung dasteht. Den Mut zum Regieren immerhin haben die Beteiligten aufgebracht - für mehr, für klügere, zukunftsfähigere, im Idealfall begeisternde Konzepte haben sie wohl weder den Mut noch die Ideen."
Badische Neueste Nachrichten: "Ideologische Debatte? Große Würfe? Fehlanzeige! Wer weiß schon außer denen, die sich beruflich damit beschäftigen müssen, was das Kooperationsverbot ist, das nun fallen soll? Und welche Wucht steckt in der Aussage, dass Steuern nicht erhöht werden sollen? Was SPD und CDU da festgelegt haben, klingt genauso wenig aufregend wie die vergangene Legislaturperiode verlaufen ist. Da ist kein Leitgedanke, keine Grundidee, kein Aufbruch sichtbar."
Weser-Kurier: "Das war nur Vorgeplänkel. Nun soll mit dem Ziel verhandelt werden, unter Angela Merkel erneut zu regieren. Und das, wir erinnern uns, hatte SPD-Chef Martin Schulz einst kategorisch abgelehnt. Jetzt also doch? Es mag ein gut austarierter Kompromiss sein, auf den sich CDU/CSU und SPD da geeinigt haben, doch von all den geforderten Bedingungen, wie zum Beispiel der Bürgerversicherung oder der Erhöhung des Spitzensteuersatzes, findet sich nichts. Die Sozialdemokraten müssen sich endlich mal entscheiden, was sie eigentlich wollen."
Frankenpost: "Nun gelang erst einmal ein Befreiungsschlag. Martin Schulz hat nicht den Lindner gemacht und im letzten Augenblick alles platzen lassen. Der SPD-Chef hat die Verantwortung für das Land vor das Wohl und Interesse seiner Partei gestellt. Das ehrt ihn. Wer wird was in der künftigen Groko, falls die SPD-Basis diese billigt - Martin Schulz der neue Außenminister und Vizekanzler? Das würde gut passen, könnte er auf diesem Schlüsselposten doch die Europapolitik stark mitprägen."
Stuttgarter Nachrichten: "Anders als in der Union will sich in der SPD selbst unter den zähneknirschenden Befürwortern einer neuen Groko keine Erleichterung einstellen, Deutschland endlich wieder eine handlungsfähige Regierung zu bescheren. Denn abseits aller Kompromisse riecht diese große Koalition schon vor Beginn ziemlich ranzig, bleibt ohne Aufbruch und Vision. Aber die gelungene Sondierung zeugt von Realitätssinn und verspricht finanzielles Augenmaß. Angela Merkel kann, anders als Schulz, gelassen abwarten, was nun passiert. An ihr jedenfalls wird Schwarz-Rot nicht scheitern."
Pforzheimer Zeitung: "Vor allem die sogenannten kleinen Leute profitieren. Etwa von der überfälligen Wiedereinführung der Parität bei den Krankenversicherungsbeiträgen. Die Abschmelzung des Solis wird ebenfalls die kleinen und mittleren Einkommen entlasten - gut so. Ja, es stimmt, vieles ist naturgemäß noch vage; ein großer Wurf - wie eine umfassende Steuerreform oder eine zukunftssichernde Rentenpolitik - sind nicht in Sicht. Beides war aber auch nicht zu erwarten. Der SPD ist zu wünschen, dass sie künftig anders auftritt. Die CSU hat bei allem Ärger bewiesen, dass es auch in einer Koalition möglich ist, hart zu attackieren. Streit um die beste Lösung ist die Basis einer jeden Demokratie. Dieser Streit darf durchaus auch in der Regierung stattfinden. Allemal besser, als vier weitere Jahre Kuschelkoalition."
Leipziger Volkszeitung: "Vor allem aber haben Union und SPD bewiesen, dass sie es ernst meinen damit, dass auch schwierige Verhandlungen zu einem Ende geführt werden müssen. Sie haben etwas geschafft, das die FDP bei den Jamaika-Verhandlungen überfordert hat. Politiker von CDU, CSU und SPD haben sich angestrengt und gezeigt, dass sie sich ihrer Verantwortung für das Land bewusst sind. Die harte Arbeit am Konsens verdient Respekt - auch von denen, die nicht jedes der Ergebnisse ideal finden."
Stuttgarter Zeitung: "Die Bürger erhielten ein ordentliches Paket, das kaum eine gesellschaftliche Baustelle auslässt. Und doch findet sich im Sondierungspapier kein einziges Vorhaben, das mehr wäre als die Fortschreibung der bestehenden Politik, etwas Mutiges, Überraschendes gar, das als Aufbruchssignal taugen könnte - obwohl viel von Zukunft die Rede ist. Das Programm für mehr bezahlbaren Wohnraum erhält kaum mehr Geld, die allseits versprochene Einkommensteuersenkung fällt aus. Die große Koalition denkt wiederholt zu klein. Das gilt gerade für die Europapolitik. Sicher wäre es gut, wenn Deutschland im politisch aufgewühlten Europa eine zuverlässige Regierung bekäme. Die Groko-Partner müssten aber mehr gegen den Überdruss im Innern unternehmen, der Europa auf Dauer genauso destabilisiert"
Flensburger Tageblatt: "Das alternde Ehepaar zankt und streitet, die beiden gehen sich zunehmend auf die Nerven. Der Mann verkündet seinen Scheidungswillen. Die Frau hat einen neuen Partner aus Jamaika im Blick. Der gibt ihr plötzlich einen Korb. Und dann wären da noch die schwer kalkulierbaren Scheidungskosten. Also kehrt sie zurück zu ihrem Mann und macht ihm so viele Zugeständnisse, dass er knurrend in den Fortbestand des Nebeneinanderlebens einwilligt. Ein uninspiriertes, liebloses, erquältes "Dann-bleiben-wir-halt-doch-zusammen".
Mittelbayrische Zeitung: "Union und SPD haben eine Woche lang knallhart und schonungslos die Knackpunkte und den Fahrplan einer erneuten Groß-Koalition sondiert. Dabei kamen keine großen Visionen und kühnen Zukunftsprojekte heraus, doch zumindest wurde das Fundament für eine stabile Regierung gelegt. Das ist in Zeiten, in denen die Welt aus den Fugen zu geraten scheint, in denen Nationalisten, Populisten und Polit-Egomanen die Entwicklung zurückdrehen wollen, schon eine ganze Menge."
Sächsische Zeitung: "Es gibt wirklich Schlimmeres in der Politik als eine Große Koalition. Aber die ernsthaften Bedenken, die die bisherigen Regierungspartner an ihrer Fortsetzung nach dem Wahlergebnis hatten, sind nicht ausgeräumt. Erst recht nicht von den Sondierern, die jetzt beinahe euphorisch als hervorragend preisen, wovon sie gerade noch behauptet hatten: Niemand hat die Absicht. (...) Die Glaubwürdigkeit von Politik ist also nicht gerade gewachsen. Die politischen Ränder werden weiter gestärkt."
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