Überhangmandate vor dem Bundesverfassungsgericht Karlsruhe entscheidet über Wahlrecht

Berlin · Das Bundesverfassungsgericht geht ab heute der Frage nach, ob das von Union und FDP durchgedrückte neue Wahlgesetz auch verfassungsgemäß ist. Die Opposition will die Wirkung der Überhangmandate ausgleichen; die Union warnt vor einer Aufblähung des Bundestags.

 Das Bundesverfassungsgericht verhandelt über das deutsche Wahlrecht. Es hat in Ausnahmefällen absurde Effekte.

Das Bundesverfassungsgericht verhandelt über das deutsche Wahlrecht. Es hat in Ausnahmefällen absurde Effekte.

Foto: dapd, Maja Hitij

Beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe beginnt heute ein Streitverfahren mit besonderer Brisanz. Denn nichts wäre verheerender für die Legitimität von Gesetzen, als wenn die Bürger das Gefühl bekämen, bei den dahinter stehenden Mehrheiten könnte nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sein: dass die Kanzlerin oder der Kanzler zwar eine Mehrheit im Bundestag hätte, die aber nicht dem Wählerwillen entspräche.

Die Opposition hat unter genau diesem Verdacht zusammen mit Tausenden von Bürgern gegen das neue Wahlrecht geklagt, das Union und FDP vergangenen Herbst durchsetzten. Heute hören sich die Richter die Argumente der verschiedenen Parteien an.

Der Schlamassel mit dem offensichtlich ungerechten Wahlrecht wurde deutlich, als in Dresden eine Nachwahl kurz nach der Bundestagswahl 2005 nötig wurde, weil ein Spitzenkandidat kurz vor dem bundesweiten Wahltermin gestorben war. Es fiel auf, dass die CDU damals ihre Anhänger ermunterte, zwar mit der Erststimme ihren Direktkandidaten zu wählen, aber keinesfalls der CDU die Zweitstimme zu geben. Denn sonst hätte das bedeutet, dass wegen der bundesweiten Verrechnung der Zweitstimmen zwischen den verschiedenen Landeslisten die CDU ein Mandat verloren hätte.

Das sogenannte negative Stimmgewicht beleuchtet deshalb die besondere Absurdität: Dass eine Partei dazu aufruft, sie nicht zu wählen, damit sie gewinnt. Es ist die Achillesferse einer deutschen Wahl-Eigenart. Wenn das nationale Parlament sich nur aus denen zusammensetzen würde, die in den einzelnen Wahlkreisen jeweils die meisten Stimmen bekommen (reines Persönlichkeitswahlrecht), gäbe es die Probleme nicht. Und auch nicht, wenn es vor Ort gar keine Direktkandidaten gäbe, sondern bundesweit nur lange Parteilisten anzukreuzen wären (reines Verhältniswahlrecht).

Beide Verfahren haben Nachteile: Im ersten Fall haben kleine Parteien keine Chance. FDP, Linke und Grüne wären nie oder nur sehr selten mit einzelnen Abgeordneten in den Bundestag gekommen. Im zweiten Fall sind klare Mehrheiten kaum zu bekommen. Deshalb wollten die Gründer der Republik beide Verfahren zu einem besonders gerechten System verbinden: dem personalisierten Verhältniswahlrecht — Anbindung an Persönlichkeiten vor Ort plus Vertretungen der Parteien nach ihrem bundesweiten Stimmanteil.

Die Hälfte der Sessel im Bundestag besetzte seitdem die Garde der direkt gewählten Wahlkreisabgeordneten, die anderen kamen von den Listen — und alle zusammen entsprechend dem Zweitstimmenergebnis. Doch es "klemmt" immer dann, wenn in einem Bundesland eine Partei mehr Sitze "direkt" gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Dann entstehen die Überhangmandate.

Die SPD will mit ihrer Klage erreichen, dass künftig die anderen Parteien Ausgleichsmandate bekommen, um die ursprünglichen Stärkeverhältnisse wiederherzustellen. Der Union graust davor. Das könne im Extremfall bedeuten, dass der Bundestag auf bis zu 919 Abgeordnete aufgebläht würde, rechnet Wahlrechtsexperte Günter Krings vor. Die Mandatsvermehrung im nordrhein-westfälischen Landtag von 181 auf 237 zeige, wie schnell das gehen könne. Denn NRW hat den Ausgleichsfaktor schon, den die SPD auch auf Bundesebene haben will. "Meine Partei ist doch richtig abgestraft worden, aber im Landtag mit der alten Stärke vertreten", sagt der CDU-Abgeordnete. Nordrhein-Westfalen sei daher ein "Lehrbeispiel" für die bedenklichen Folgen jener Aufblähung.

Die Grünen wollen die Überhangmandate ausschalten, indem für jeden "zu viel" gewonnenen Wahlkreis andernorts einer nicht anerkannt werden soll, in dem der Sieger nur ganz knapp durchs Ziel ging. Aber ob das die Wähler auch gut finden, wenn sie, nur weil sie knapp die Mehrheit stellten, plötzlich gar nichts mehr wert sein sollen?

So setzen Union und FDP darauf, dass Karlsruhe ihre Novelle passieren lässt. Das sei das einzige Modell, das wirksam das negative Stimmgewicht bekämpfe, indem die Querverrechnungen zwischen den Bundesländern reduziert werden. Ganz kappen wollten sie diese auch nicht. Schließlich hatte die FDP ein besonderes Interesse an einer "Reststimmenverwertung", damit auch aus kleineren Ländern kleinere Parteien eine Chance auf Mandate behalten. Jetzt haben die Richter das Wort.

(RP/pst/csi/jre/jh-)
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