Frau Rosenthal, Sie sind Lehrerin. Wie würden Sie das aktuelle Gebaren der Ampelkoalition auf einer Notenskala bewerten?
Jessica Rosenthal (SPD) „Ich möchte nicht in einem bis an die Zähne bewaffneten Land leben“
Interview | Berlin · Die Juso-Chefin über den Zoff in der Ampel-Koalition, die Frage nach neuen Einnahmequellen für Christian Lindner und wie sie auf mehr Verteidigungsausgaben schaut.
Rosenthal Ich sehe als Lehrerin Noten grundsätzlich kritisch, weil sie zu undifferenziert Rückmeldung geben. Insofern werde ich der Koalition keine Haltungsnoten geben. Aber klar halte ich die öffentlich zwischen Kabinettsmitgliedern ausgetragenen Debatten für schwierig.
Robert Habeck hat ebenfalls davor gewarnt, als er seinem Ärger über Durchstechereien Luft gemacht hat. Haben Sie kein Verständnis für seinen Frust?
Rosenthal Natürlich ist es ärgerlich, wenn wichtige Gesetzesvorhaben durch gezieltes Lancieren an die Presse torpediert werden. Ein Interview in den Abendnachrichten halte ich dennoch für den falschen Ort für Kritik aneinander. Die Ampelkoalition sollte sich jetzt besser zusammensetzen und Dinge in vertrauensvollem Umfeld direkt miteinander klären.
Welche Erwartung haben Sie also an den Koalitionsausschuss am Sonntagabend?
Rosenthal Ich erwarte, dass die Vorsitzenden der Ampel-Parteien, der Bundeskanzler und die Fraktionsspitzen zu klaren Vereinbarungen bei schwelenden Konflikten kommen. Das betrifft unter anderem den Zoff um die Frage, was alles von der Planungsbeschleunigung umfasst sein soll. Aber was über allem schwebt, ist der Streit um die Verteilung der Haushaltsmittel. Da braucht es jetzt Klärung, damit die Ampel in das kommende Jahr gut ausgestattet all die Zukunftsherausforderungen anpacken kann.
Aber der Bundeshaushalt ist dem Vernehmen nach kein eigener Diskussionspunkt. Wird es ein Gipfel der Enttäuschung?
Rosenthal Der Haushalt ist nun mal der größte Konfliktherd. Der Koalitionsausschuss bietet ein gutes Forum für die grundsätzliche Klärung, wie wir Vorhaben wie die Kindergrundsicherung, die Bafög-Reform und viele weitere Reformvorhaben des Koalitionsvertrages finanzieren. Also sollten die Mitglieder des Koalitionsausschusses auch darüber reden, finde ich.
Welche Prioritäten würden Sie sich wünschen?
Rosenthal Zunächst müssen wir darüber reden, wo das Geld herkommen soll. Und da ist für uns Jusos ganz klar, dass es nicht allein um weitere Verschuldung geht.
Sondern?
Rosenthal Als allererstes sollten wirklich Vermögende in Deutschland zur Kasse gebeten werden. Eigentum verpflichtet, das ist Grundlage unseres Grundgesetzes. Deshalb braucht es eine Vermögensabgabe. In unserer Vorstellung soll solch eine Abgabe auf Privatvermögen ab zwei Millionen Euro gelten. Damit würde das vor allem die Reichsten der Reichen betreffen. Diesen Menschen täte es finanziell nicht weh, wenn sie sich hier solidarisch zeigen und einen Teil ihres Geldes abgeben würden für die Finanzierung der drastisch gestiegenen Kosten in der Krise. Es wäre das Gerechteste, was wir machen können. Und wir müssen es jetzt machen, damit es in dieser Zeit noch hilft.
Das wird spätestens mit der FDP nicht zu machen sein.
Rosenthal Ich würde das Vorhaben nicht aufgeben, aber natürlich wird das schwierig. Daher gibt es weitere Möglichkeiten. Wir können klimaschädliche Subventionen streichen, wie wir es uns auch im Koalitionsvertrag vorgenommen hatten. Das Dienstwagenprivileg gehört zum Beispiel endlich abgeschafft. Damit hätten wir jährlich um die fünf Milliarden Euro mehr finanzielle Spielräume. Auch bei der Gaspreisbremse werden vermutlich weitere Mittel übrigbleiben, die wir für die Krisenbewältigung verwenden können. Zudem ist es nötig, dass wir die Schuldenbremse endlich lösen, um kluge Investitionspolitik zu machen.
Ist es nicht im Sinne der jungen Menschen, die Sie vertreten, die Neuverschuldung in Grenzen zu halten?
Rosenthal Die heute jungen Menschen und deren künftige Kinder werden zurecht die Frage stellen, was alles getan wurde, um die multiplen Probleme wie den Krieg, die Energiekrise, die Transformation der Wirtschaft hin zu klimaverträglicher Industrie zu lösen. Wir müssen ein klimaneutrales, prosperierendes Land mit guten Schulen und Straßen vererben, das in einem funktionierenden Europa für eine friedliche Welt auf Augenhöhe sorgt. Das gibt es nicht zum Nulltarif. Es sollte also endlich klar sein: Wir vererben auch marode Schulen und Straßen oder fehlende Schienen. Deshalb ist die Schuldenbremse viel zu oft eine Investitionsbremse.
Zuletzt haben mehrere Berichte wieder einmal ein düsteres Bild von den Problemen durch den Klimawandel gezeichnet. Sehen Sie die Vorhaben der Bundesregierung als geeignet an, die Klimaziele zu erreichen?
Rosenthal Ich erkenne an, dass die Ampel-Koalition viel vorhat und bereits angeschoben hat, um die Probleme zu lösen. Das betrifft allen voran den Ausbau der erneuerbaren Energien. Trotzdem geht es natürlich noch nicht so schnell, wie es müsste. Mir ist vor allem wichtig, dass die Menschen etwas von dem Wandel haben, den wir da gestalten. Gerade von erneuerbaren Energien sollten alle profitieren. Wenn das Windrad vor der Haustür Geld für Schulbau oder den neuen Spielplatz in die Kassen der Kommunen spült, dann haben alle etwas davon.
Die Kommunen schaffen das aber oftmals nicht aus eigener Kraft.
Rosenthal Bund und Länder sollten jetzt einen Investitionstopf zur Verfügung stellen, aus dem Kommunen die Beteiligung an solchen Windkraftprojekten stemmen können. Und für die Menschen sollte es auch schon möglich sein, mit kleinen Beträgen mitzumachen. Nur dann kann daraus ein Gemeinschaftsprojekt werden.
Zuletzt hat es von der Grünen Jugend eine Debatte darüber gegeben, ob große Energiekonzerne wie RWE vergesellschaftet werden sollten. Gehen Sie da mit?
Rosenthal Die Forderung ist ja nicht neu, sondern eine, die wir als Jusos schon lange formulieren. Wir brauchen eine dezentrale Energieinfrastruktur, die in der Hand von Kommunen oder Genossenschaften liegt. Genau diese neue Struktur können wir mit dem Umbau hin zu Erneuerbaren Energien leisten. Deshalb plädiere ich ja unter anderem für Investitionen.
Sehen Sie Unterstützung bei den Jusos für die Pläne von Verteidigungsminister Boris Pistorius, den Wehretat strukturell aufwachsen zu lassen?
Rosenthal Die Jusos und ich persönlich sperren sich nicht gegen notwendige Ausgaben im militärischen Bereich. Wir sind dafür, den Frauen und Männern in der Bundeswehr die nötige Ausrüstung zukommen zu lassen, die sie benötigen. Was mir aber fehlt, ist eine öffentliche Debatte darüber, wohin die Armee steuern soll. Was sind ihre künftigen Aufgaben und wohin will Europa in der Nato? Solche Dinge müssen klar sein, bevor immer mehr Geld in ein System gepumpt wird, das an vielen Stellen mit Blick auf das Beschaffungswesen noch ein finanzielles Schwarzes Loch ist. Denn das Geld sollte zielgerichtet ausgegeben werden für Dinge, die Deutschland im Staatenverbund gut kann. Gleichzeitig sollten Synergien mit anderen Ländern wie beispielsweise Frankreich genutzt werden.
Wird es eine Spirale der Aufrüstung geben?
Rosenthal Es ist notwendig, die Wehrhaftigkeit Deutschlands wiederherzustellen. Das hat der Überfall Russlands auf die Ukraine deutlich gemacht. Wir haben Verpflichtungen in der Nato schon heute, denen wir nicht nachkommen können. Doch so utopisch das heute klingen mag, bleibt es auch wichtig, unseren zeitlichen Horizont zu weiten und in der Zukunft Abrüstung wieder voranzutreiben und sich für Deeskalation einzusetzen. Ich möchte nicht in einem bis an die Zähne bewaffneten Land leben. Und die Rüstungsindustrie sollte nicht zum Garanten für Wirtschaftswachstum werden. Verteidigungsfähigkeit bleibt ein entscheidend wichtiger Teil von Sicherheit. Aber zur Sicherheit gehören auch Bemühungen in der Entwicklungszusammenarbeit oder der Einsatz für soziale Sicherheit.
Wie bewerten Sie Forderungen, dass junge Menschen mehr Verantwortung in der Gesellschaft übernehmen sollten und sich beispielsweise vermehrt auch für den Dienst an der Waffe melden sollten?
Rosenthal Die Wehrpflicht ist ausgesetzt und sollte es auch bleiben. Die Bundeswehr muss attraktiver werden als Arbeitgeber, dann werden sich auch mehr Menschen für eine Soldat*innenlaufbahn entscheiden. Zugleich ist ein Dienst für die Gesellschaft auch an vielen anderen Stellen möglich. Viele junge Menschen wollen sich zum Beispiel auch in einem FSJ engagieren, obwohl das häufig für sie mit finanziellen Problemen einhergeht. Deshalb sollten wir viel mehr die Rahmenbedingungen für gesellschaftliches Engagement, das FSJ besser bezahlen und mehr Stellen schaffen.
Blicken wir auf die NRW-SPD: Sollte Thomas Kutschaty auch noch den Fraktionsvorsitz im Landtag abgeben, um einen echten personellen Neustart zu ermöglichen?
Rosenthal Diese Frage wird die Landtagsfraktion für sich beantworten.
Was braucht es, um die NRW-SPD aus der Krise herauszuführen?
Rosenthal Die NRW SPD hat viele kluge Köpfe und noch bessere Ideen. Kein anderes Bundesland wird die Transformation der Industrie beispielsweise so intensiv meistern müssen: Die Energiewende schaffen, das Potenzial junger Menschen heben, soziale Absicherung in all diesem Wandel garantieren. Die SPD wird es sein, die diesen Wandel zu einem Erfolg für alle machen muss. Ich bin überzeugt davon, dass wir das schaffen, wenn es nicht allein um Einzelpersonen in bestimmten Funktionen geht, sondern wir uns gemeinsam als Team von Stadtrat über Oberbürgermeister, Landtags- oder Bundestagsabgeordneter dieser Aufgabe stellen.