Erfinder von „Jugend debattiert“ „Jugendliche streiten gerne“

Interview · Ohne Debatte keine Demokratie, findet Ansgar Kemmann, der die politische Diskussion unter jungen Leuten zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat. Mit dem Debattenwettbewerb #mitreden überträgt unsere Redaktion diese Idee auf Themen der Region.

Die Joseph-Beuys-Gesamtschule in Kleve diskutiert im Rahmen des Debattenwettbewerbs #mitreden über die Frage „Ist der Religionsunterricht noch zeitgemäß?“. Das „Contra-Team“ mit Melina Zarishta und Zeliha Ates, Lehrerin Romy Ackers und das „Pro-Team“ mit Susanita Podosyan und Johanna Kiesel (von links).

Die Joseph-Beuys-Gesamtschule in Kleve diskutiert im Rahmen des Debattenwettbewerbs #mitreden über die Frage „Ist der Religionsunterricht noch zeitgemäß?“. Das „Contra-Team“ mit Melina Zarishta und Zeliha Ates, Lehrerin Romy Ackers und das „Pro-Team“ mit Susanita Podosyan und Johanna Kiesel (von links).

Foto: Markus van Offern (mvo)

Am Montag ist das Finale des Debattenwettbewerbs #mitreden im nordrhein-westfälischen Landtag in Düsseldorf. Vier von ursprünglich zwölf Schulen stehen in der Endrunde und ermitteln das beste Rednerteam. Es sind die Gesamtschulen Mittelkreis aus Goch und Hardt aus Mönchengladbach sowie das Otto-Hahn-Gymnasium aus Monheim und das Gymnasium am Moltkeplatz in Krefeld. Dem Siegerteam winken 5000 Euro als Preisgeld. Veranstaltet wird der Wettbewerb von unserer Redaktion, der Chemiekonzern Evonik ist Sponsor der Veranstaltung und wirkt ebenfalls mit. Der regionale Wettbewerb wurde vom Format „Jugend debattiert“ der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung inspiriert, das Ansgar Kemmann 2002 gegründet hat. Seit dieser Zeit ist er Leiter von „Jugend debattiert“. Er hat unsere Redaktion beim Debattenwettbewerb #mitreden mit Schülerinnen und Schülern aus der Region beraten.

Politiker sollen handeln, nicht so viel reden, heißt es häufig hierzulande. Warum ist die politische Debatte in Deutschland so verpönt?

Kemmann Verpönt ist vielleicht das falsche Wort. Aber richtig ist, dass wir keine große Debattentradition in Deutschland haben. In früheren Jahren fehlte die Ausbildung, eine Übung schon in der Schule oder bei anderen Gelegenheiten. Das prägte ganze Politikergenerationen. Man konnte eben gut reden, oder auch nicht. Aber das hat sich verändert.

Was leisten dazu Wettbewerbe wie „Jugend debattiert“ und das RP-Format #mitreden?

Kemmann Wettbewerbe motivieren, sich auszuprobieren und über die Schule hinauszugehen. Jugend debattiert versucht zudem, den schulischen Unterricht zu unterstützen, zum Beispiel durch Fortbildungen für Lehrkräfte und spezifisches Arbeitsmaterial für Schülerinnen und Schüler.  In vielen Schulen zählt das Debattieren mittlerweile zum Lehrstoff, in manchen Bundesländern ist es sogar prüfungsrelevant. Das ist eine sehr erfreuliche Entwicklung. Auch gesellschaftlich ist die Wertschätzung  konstruktiver Auseinandersetzung gestiegen.

Debatte heißt Streit. Erschweren Konflikte nicht Lösungen?

Kemmann Der britische Schriftsteller Gilbert K. Chesterton sagte einmal, die Menschen streiten, weil sie nicht gelernt haben zu diskutieren. Es genügt nicht, einfach drauflos zu reden. Dann entsteht leicht ein unfruchtbarer Streit. Deshalb sollen Jugendliche das produktive Streiten rechtzeitig lernen.

Streiten Jugendliche lieber als Erwachsene?

Kemmann Das kann man so nicht sagen. Jugendliche streiten gerne, weil sie aufbegehren und glauben, im Recht zu sein. Das glauben Erwachsene auch, sind dabei aber oft bereits verbittert. Was wir gegenwärtig als Polarisierung – etwa in sozialen Medien – erleben, resultiert auch daraus, dass sich Unzufriedenheit, Groll und Ressentiments in die politische Diskussion einschleichen. Das kommt aber eher von der älteren Generation, natürlich nicht bei allen. Die jungen Leute suchen den Streit, um an ihm zu wachsen. Das ist produktiv.

 Ansgar Kemmann leitet das Projekt „Jugend debattiert“ der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung.

Ansgar Kemmann leitet das Projekt „Jugend debattiert“ der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung.

Foto: Hertie-Stiftung

Jugendliche haben oft absolute Meinungen und weisen Alternativen militant von sich. Wie kann man dem begegnen?

Kemmann Das ist der Punkt, an dem Formate wie „Jugend debattiert“ ansetzen. In der Schule beispielsweise kann man gut lernen, wie eine demokratische Auseinandersetzung funktioniert. Dabei ist es wichtig, andere Meinungen erst einmal zu akzeptieren und sich dann argumentativ auseinandersetzen. Das bedeutet auch, verschiedene Perspektiven kennenzulernen und auszutesten, wo die eigene Meinung auf wackligem Boden steht. Debatte ist ein Erkenntnisverfahren, kein Bekenntnisverfahren.

Debatte ist auch Wettbewerb. Scheuen viele Schülerinnen und Schüler das Sportliche daran?

Kemmann Der Wettbewerbsgedanke ist ganz wichtig. Jede Auseinandersetzung hat einen kompetitiven Aspekt. Aber Konkurrenz ist nicht alles. Denn durch den Austausch der Argumente können beide Seiten gewinnen. Dazu ist aber eine bestimmte Versuchsanordnung nötig, ein Wettstreit nach Regeln. Die Aufgabe muss überschaubar bleiben, so dass man sein Vorgehen auch überprüfen kann. Unsere Debatten bestehen nur aus einem Tagesordnungspunkt, nicht aus einem komplizierten Themenkomplex.

Wie politisch sind die Jugendlichen heute?

Kemmann Politischer als vor 15 oder 20 Jahren! Viele junge Leute hatten damals lediglich ihr eigenes Fortkommen im Blick. Debatte wurde als Schlüsselqualifikation für ein besseres Auftreten im Beruf verstanden. Das hat sich geändert. Nach Donald Trump und den Erfolgen der AfD ist klarer geworden, dass unsere Art des demokratischen Zusammenlebens keine Selbstverständlichkeit ist. Dazu kommt, dass eine Gesellschaft, die mit Diversität zurechtkommen muss, Verfahren braucht, um Kontroversen und Gegensätze auszutragen, ohne sich an die Gurgel zu gehen.

Wichtig für einen Erfolg von Debatten in der Schule ist auch die Mitwirkung der Lehrkräfte. Sind die in der Regel hilfreich oder eher besserwisserisch?

Kemmann Beides, es sind eben Lehrer. Aber im Ernst: Die Lehrkräfte, die bei “Jugend debattiert“ mitmachen, sind sehr am Meinungsaustausch interessiert. Das hilft enorm, und ohne ihre Mitwirkung geht es nicht.  Aber man muss wissen, dass Debatte ein bisschen auch an der Autorität der Lehrenden kratzen kann. Denn es relativiert natürlich, was Lehrkräfte im Unterricht sagen. Das gilt jedoch für beide Seiten: Auch der andere könnte Recht haben.

Wie politisch korrekt muss eine Debatte sein? Gibt es Tabuthemen und Tabumeinungen?

Kemmann In einer guten Debatte geht es um die Sache.. Dazu gehört Respekt vor der anderen Meinung, und insoweit hilft politische Korrektheit. Problematisch wird es, wenn es nur noch darum geht. als sensible, tolerante und rücksichtsvolle Menschen zu erscheinen, und eine Auseinandersetzung in der Sache nicht mehr stattfindet. Das vergiftet Debatte.

Über welche Themen sollen Jugendliche bevorzugt diskutieren?

Kemmann Über alle Themen, die sie interessieren.

Geht es genauer?

Kemmann Wenn man junge Leute fragt, wollen sie gerade nicht ausschließlich über Themen aus ihrer Lebenswelt, wie Schule oder Freizeit, diskutieren, sondern auch über große Themen wie Klimaschutz, Frieden oder Wirtschaftskrise. Ich glaube, die Mischung macht es aus.

Nach unserer Erfahrung haben gerade auch lokalpolitische Themen eine hohe Attraktivität erzeugt. Ungewöhnlich?

Kemmann Nein, überhaupt nicht. Lokalpolitische Themen haben den Vorzug, sehr fassbar und sehr konkret zu sein. Dann sind sie genauso spannend wie die weltbewegenden Themen.

Welcher Redner im Bundestag gefällt Ihnen besonders?

Kemmann Ich halte Bundesfinanzminister Christian Lindner für rhetorisch hochbegabt. Leider erliegt er immer wieder der Versuchung, nur Klientelpolitik zu machen – wie jüngst beim Tankrabatt.

Was halten sie von Kevin Kühnert oder Robert Habeck?

Kemmann Beide sprechen hervorragend ihre jeweilige Wählergruppe an.

 Ansgar Kemmann, Leiter "Jugend debattiert", Hertie-Stiftung

Ansgar Kemmann, Leiter "Jugend debattiert", Hertie-Stiftung

Foto: Hertie-Stiftung

Kemmann Die Ex-Kanzlerin und der Kanzler zeichnen sich vor allem durch Nüchternheit aus, weniger durch rhetorischen Glanz. Aber das passt in unsere schwierige Zeit. Debatte ist aber auch unter solchen Umständen wichtig und richtig.

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