Bundesverfassungsgericht kippt Wahlrecht Jetzt ist für die Politik Eile geboten

Berlin · Es ist ein erneuter Rückschlag für Schwarz-Gelb: Das Bundesverfassungsgericht hat das erst neu geregelte Wahlrecht für verfassungswidrig erklärt. Und nun ist Eile geboten, denn nächstes Jahr steht die Bundestagswahl an. Wir beantworten die wichtigsten Fragen zu der Gerichtsentscheidung.

Wenn Karlsruhe die Politik repariert
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Foto: AP

Mit dem Urteil werde "Klarheit in der rechtlich komplexen und komplizierten Materie des deutschen Wahlrechts geschaffen", erklärte Vize-Regierungssprecher Georg Streiter nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Nun solle zügig geklärt werden, wie das Urteil in aktuelle Politik umgesetzt werden kann. Das könnte genauso kompliziert werden wie es das deutsche Wahlrecht überhaupt ist.

Warum hat Karlsruhe das Wahlrecht für ungültig erklärt?

Nach Auffassung der Richter verstößt es gegen die Chancengleichheit der Parteien. Konkret geht es um die Überhangmandate. Solch eine "ungleiche Gewichtung der Wählerstimmen" sei nur in "geringem Umfang hinnehmbar". Daher haben die Richter eine maximale Anzahl von 15 Überhangmandaten festgelegt. Gibt es mehr, muss ein Ausgleich für die anderen Parteien geschaffen werden. Der Gesetzgeber müsse, so die Karlsruher Richter, Vorkehrungen dafür treffen, "die ein Überhandnehmen ausgleichloser Überhangmandate unterbinden". Als problematisch an den Überhangmandaten wird gesehen, dass dafür weniger Wählerstimmen nötig seien als normalerweise.

Was sind Überhangmandate?

Überhangmandate haben etwas mit unserem Verhältniswahlrecht zu tun. Mit der Zweitstimme wird die Partei gewählt, mit der Erststimme der Direktkandidat aus dem Wahlkreis. Erringt Partei X durch die Zweitstimme beispielsweise 40 Sitze im Parlament, aber 42 Kandidaten werden durch die Erststimme direkt in den Bundestag gewählt, hat die Partei folglich zwei Sitze mehr. Und diese beiden Sitze sind die sogenannten Überhangmandate. Von diesen Mandaten profitieren in der Regel die großen Parteien, weil kleinere nur selten Direktmandate holen. So wie 2009 die Union: Sie erhielt ganze 24 Überhangmandate.

Warum wurde diese Regelung bemängelt?

Die Überhangmandate stehen seit jeher in der Kritik. Die Verfassungsrichter hatten schon immer argumentiert, dass diese nur begrenzt verfassungsrechtlich unbedenklich sind. Allerdings ist die Zahl in den vergangenen Jahren immer mehr gestiegen, auch weil es immer mehr Parteien in Deutschland gibt.

Wer hatte gegen die Neuregelung des Wahlrechts geklagt?

Geklagt hatten die Bundestagsfraktionen von SPD und Grünen, außerdem die Partei der Grünen selbst. Hinzu kam eine Massenbeschwerde von 3063 Bürgern gegen die 2011 verabschiedete Wahlrechtsreform. Bei der Opposition dürfte aber nicht nur das Wahlrecht selbst eine Rolle gespielt haben bei der Entscheidung zur Klage.

Weshalb klagte die Opposition noch?

Im Jahr 2008 hatten die Karlsruher Richter das geltende Wahlrecht schon einmal gekippt. Damals ging es um das sogenannte negative Stimmgewicht. Das sollte die Politik ändern, innerhalb einer Frist von drei Jahren. Die schwarz-gelbe Koalition hatte sich damit Zeit gelassen und das neue Wahlrecht — was jetzt erneut gekippt wurde — gegen den Willen der Opposition beschlossen. Und so klagte diese vor dem höchsten deutschen Gericht — mit dem Argument der Überhangmandate.

Was ist das negative Stimmgewicht?

Das negative Stimmgewicht meint, dass mehr Stimmen für eine Partei zu weniger Sitzen für diese Partei führen können — oder auch umgekehrt . Hierbei geht es vor allem um die Verteilung der Länder-Kontingente, die ebenfalls über die Zweitstimme geregelt werden. Die Kontingente werden gegeneinander aufgewogen.

Die Sitze werden den Bundesländern nach der Wahlbeteiligung zugesprochen, was Karlsruhe ebenfalls für nichtig erklärte. Hat eine Partei in einem Bundesland mehr Stimmen, kann das in einem anderen Bundesland dazu führen, dass die Partei dort einen Sitz verliert. In dem ersten Bundesland muss es aber nicht zugleich so sein, dass es dort einen Sitz mehr gibt. Das hängt auch mit den Überhangmandaten zusammen: Weil die Partei im ersten Bundesland mit ihren Überhangmandaten ohnehin schon mehr Sitze bekommt als ihr nach der Zweitstimme zustehen, bringt ihr ein Stimmenzuwachs dort nichts.

Wie geht es jetzt weiter?

Die Politik muss unverzüglich handeln. Denn die Karlsruher Richter haben ihr diesmal keine Übergangszeit gestattet. Dementsprechend gibt es derzeit kein wirksames Recht, wie die Sitze bei Bundestagswahlen verteilt werden. Allerdings muss spätestens am 27. Oktober nächsten Jahres die Bundestagswahl durchgeführt werden. Und bis dahin muss es auch eine Neuregelung geben.

Was bedeutet das für die Koalition?

Für Schwarz-Gelb wird das vor allem bedeuten, sich mit der Opposition zusammenzusetzen und diesmal nicht im Alleingang zu entscheiden. Die Koalition hat bereits kurz nach dem Urteil der Opposition unverzügliche Gespräche über eine Neuregelung angeboten. "Die Tür zu gemeinsamen Verhandlungen steht weit offen", erklärte der FDP-Wahlrechtsexperte Stefan Ruppert.

(das)
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