Gastbeitrag von Daniel Freund „Jetzt ist die Zeit für einen Schritt nach vorn“

Düsseldorf · Die europäische Lehre aus Corona darf nicht sein: Wir lassen alles wie es ist. Wenn wir uns fest und schlagkräftig für künftige Krisen aufstellen wollen, dann müssen wir jetzt eine Debatte darüber beginnen, wie wir die europäische Integration vertiefen können.

 Daniel Freund, Europaabgeordneter der Grünen aus Aachen, fordert für die EU Konsequenzen aus der Corona-Krise.

Daniel Freund, Europaabgeordneter der Grünen aus Aachen, fordert für die EU Konsequenzen aus der Corona-Krise.

Foto: Die Grünen

Ausgerechnet eine Vereinbarung über Kohle und Stahl sollte zur Geburtsstunde der europäischen Integration werden. Heute vor 70 Jahren schlug der französische Außenminister Robert Schuman in einer Regierungserklärung vor, „die Gesamtheit der deutsch-französischen Stahl- und Kohleproduktion einer Hohen Behörde zu unterstellen”. Andere Länder würden beitreten dürfen. Der deutsche Nachkriegskanzler Konrad Adenauer stimmte zu. Fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs legte die Schuman-Erklärung die Grundlage für die deutsch-französische Aussöhnung und die Europäische Union.

Angesichts beschlossener Kohleausstiege dieser Tage mag diese Schuman-Erklärung wie ein Anlass aus einer anderen Zeit für einen europäischen Feiertag anmuten. Ihr liegt allerdings eine Idee zugrunde, die zum politischen Grundpfeiler der Europäischen Integration werden sollte – eine Idee, die nicht nur das Wachstum der EU nach innen und außen in den vergangenen sieben Jahrzehnten vorantreiben sollte, sondern auch den Weg in die Zukunft Europas weist: Die europäische Solidarität. „Europa”, so Schuman in der Präambel der eher nüchtern und technisch verfassten Erklärung, „lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch einfache Zusammenfassung. Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die eine Solidarität der Tat schaffen.”

Schumans Worte haben 70 Jahre später nicht an Aktualität verloren. Doch die Idee einer europäischen Solidarität steht vor einer ernsten Bewährungsprobe: Die Corona-Pandemie hat die Staatengemeinschaft mitten in einer Phase des Wachstums und der Prosperität hart getroffen. Nach der Gesundheitskrise droht jetzt eine wirtschaftliche Rezession. Angesichts geschlossener Grenzen auf dem Kontinent und nationalstaatlicher Notstandsgesetze müssen wir uns ehrlich der Frage stellen, wie es um die europäische Solidarität steht. Hat Europa die richtigen Antworten auf die Krise gefunden?

Die Bilder französischer und italienischer Intensivpatienten, die per Helikopter in deutsche Krankenhäuser geflogen wurden, haben den Geist europäischer Solidarität gestärkt. Die Lockerung der Schutzmaßnahmen wird europäisch koordiniert. Brüssel schnürt Rettungspakete, die jenen helfen sollen, die am schwersten von der Krise betroffen sind.

Zu häufig jedoch lässt die europäische Zusammenarbeit und Solidarität noch zu wünschen übrig. Einige Mitgliedstaaten blockieren eine starke, solidarische Antwort auf die kommende Wirtschaftskrise. Sie lehnen gemeinsame Anleihen ab und wiederholen damit Fehler, die schon die Eurokrise länger und schmerzhafter gemacht haben - und damit auch dem Populismus und den Eurokritikern mit zum Aufstieg verholfen haben. In Italien ist die Zahl der EU-Skeptiker mit Beginn der Krise um 20 Prozent nach oben geschossen. In Ungarn hat Premier Viktor Orbán die Pandemie genutzt, um per Notverordnung die Zerstörung der Demokratie zu vollenden. Eine entschiedene Antwort aus Brüssel blieb aus. Die Wahrnehmung eines handlungsunfähigen Europas setzt Fliehkräfte in Gang.

Ein Blick in die Krisen der Vergangenheit hilft, die Dynamik der europäischen Reaktion auf die Corona-Pandemie zu verstehen. Auch die Euro-Rettung und die Flüchtlingskrise waren gekennzeichnet von einem Mangel an europäischer Solidarität. Lösungen wurden von der EU erwartet, dabei fehlten die Werkzeuge, das Geld und die Zuständigkeiten.

Nicht zufällig kommt es immer dort zu Krisen, wo die europäische Integration zwar vorangeschritten, aber auf halbem Wege steckengeblieben ist: Wir können in der EU grenzenlos reisen, haben aber keine gemeinsamen Regeln für Einwanderung und Asyl. Wir haben mit dem Euro eine gemeinsame Währung, aber keine gemeinsame Wirtschafts- und Sozialpolitik, um den Folgen von Krisen wirksam zu begegnen. In einer Welt, in der China stärker und die USA weniger verlässlich werden, kann in Europa ein einziger Mitgliedstaat verhindern, dass wir in der Welt mit einer Stimme sprechen.

Auch in der Corona-Krise zeigt sich, dass nationalstaatliches Denken europäische Antworten überlagert. Hässliche Analogien von gierigen Südeuropäern haben wieder Konjunktur. Europäische Solidarität wird häufig nur dann als solche wahrgenommen, wenn sie zwischenstaatlich organisiert auftritt, während Brüssel sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen muss, nicht genug getan zu haben. Wenn die EU aber als unfähig wahrgenommen wird, Antworten zu finden, dann wenden sich die Bürgerinnen und Bürger ab. Dann werden die Fliehkräfte immer stärker. Und jene Stimmen werden immer lauter, die nach weniger Europa oder gar dem Austritt aus der Union rufen.

Die europäische Lehre aus Corona darf nicht sein: Wir lassen alles wie es ist. Wenn wir uns fest und schlagkräftig für künftige Krisen aufstellen wollen, dann müssen wir jetzt eine Debatte darüber beginnen, wie wir die europäische Integration vertiefen können. Das Europäische Parlament steht hierfür bereits in den Startlöchern. Im Januar wurde mit der Konferenz zur Zukunft der EU ein Reformprozess auf den Weg gebracht, der zur tiefgreifendsten Neugestaltung der Union seit dem Lissabon-Vertrag 2004 führen soll. Das Ziel: Die Europäische Union demokratischer, schlagkräftiger und auch krisenfester machen.

Von Beginn an gilt es dabei auch jene mitzunehmen, die von der Corona-Pandemie am stärksten betroffen sind: Die europäischen Bürgerinnen und Bürger. Bürgerversammlungen sollen daher ein zentrales Element für dieses ambitionierte Vorhaben sein. Nur so kann gelebte europäische Solidarität und der Wunsch der Bürgerinnen und Bürger nach mehr Europa in der Krise nachhaltig in politische Prozesse übersetzt werden.

In den Monaten vor Corona erreichte die Zustimmung zur Europäischen Union Rekordwerte. Angesichts von wirtschaftlichem Wachstum und dem Negativbeispiel des Brexit ging europäische Solidarität vielen leicht über die Lippen. Doch die Union ist kein Schönwetterprojekt. Auch in der Krise müssen wir große Europäer sein. Jetzt ist die Zeit für einen Schritt nach vorn. Jetzt ist die Zeit für europäische Solidarität.

Unser Autor: Der gebürtige Aachener Daniel Freund (35) ist seit 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments und gehört dort der Fraktion Die Grünen/EFA an.

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