Gesundheitsminister Jens Spahn „Ich würde Ungeimpfte am liebsten auf eine Intensivstation zerren“

Interview | Berlin · Die vierte Corona-Welle hat Deutschland fest im Griff. Der geschäftsführende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) über seinen Frust mit Ungeimpften, schlechte Kommunikation bei Biontech und wieso er eine allgemeine Impflicht fürchtet.

Jens Spahn (CDU), geschäftsführender Bundesminister für Gesundheit, gibt eine Pressekonferenz zur Corona-Pandemie. Foto: Kay Nietfeld/dpa.

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Herr Spahn, Sie haben die 3G-Regel neu interpretiert: „Geimpft, genesen, gestorben“. Ist das die bittere Wahrheit für den Corona-Winter und Weihnachten?

Spahn Ja. Diese Wahrheit ist aber auch nicht neu. Das habe ich bereits im Wahlkampf bei mehr als 100 Auftritten immer wiederholt: Wer nicht geimpft ist, wird sich sehr wahrscheinlich bis zum Ende dieses Winters ohne Schutz infizieren. Das liegt an der Delta-Variante und der extremen Dynamik in diesen Wochen. So verbreitet sich das Virus noch schneller als jemals zuvor, auch Geimpfte infizieren sich wieder vermehrt. Geimpfte werden fast nie krank, aber auch sie können das Virus weitergeben. Delta hat die vierte Welle stark beschleunigt. Zudem wurden bis in den Herbst hinein Schutzmaßnahmen eher gelockert als verstärkt wurden, eine Maskenpflicht nach der anderen fiel. Und dann ist 3G leider zu oft nicht kontrolliert worden. 3G war zu häufig 0G. Aus dieser Gemengelage heraus ist die vierte Welle exponentiell angestiegen.

Schwingen bei dem Satz Frust und Zynismus mit?

Spahn Enttäuschung schwingt mit, ja. Der Satz stammt auch nicht von mir, aber er bringt die Lage auf den Punkt. Was mich wirklich frustriert, ist, dass wir mit der Impfung ein sicheres, hochwirksames Mittel gegen die Pandemie haben. Doch zu viele Erwachsene wollen es trotzdem nicht nutzen. Es gibt immer noch diejenigen, die glauben, das Virus könne ihnen nichts anhaben. Diese Menschen würde ich am liebsten auf eine Intensivstation zerren und sie im Angesichts des Leids fragen: Was muss eigentlich noch passieren, damit ihr es kapiert?

Warum sind Sie im Spätsommer nicht zur Kanzlerin gegangen und haben auf härtere Maßnahmen gepocht? Angela Merkel ist doch immer Anführerin im „Team Vorsicht“ gewesen.

Spahn Wir waren uns da völlig einig – und sind es bis heute.

Sie haben auf die Verantwortung der Ungeimpften für die Eskalation hingewiesen. Schwenken Sie auf eine allgemeine Impfpflicht um?

Spahn Nein. An meiner Haltung dazu hat sich nichts geändert. Aus staatsbürgerlicher Verantwortung sollte sich jeder impfen lassen. Und für medizinisches Personal sollte es meiner Meinung nach zum Berufsverständnis gehören. Aber eine verpflichtende Impfung sehe ich weiterhin sehr skeptisch. Falls uns die Ampelfraktionen auffordern, einen Gesetzentwurf für eine Impfpflicht in bestimmten Einrichtungen zu erarbeiten, wird das Gesundheitsministerium das auch machen. Da verhalte ich mich kooperativ und konstruktiv, selbst wenn ich persönlich anderer Meinung bin. So verstehe ich meine Aufgabe als geschäftsführender Bundesgesundheitsminister.

Aber warum eigentlich nicht? Österreich führt sie ein, die CSU will sie auch.

Spahn Eine allgemeine Impfpflicht würde tief in das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern, in die Freiheit des Einzelnen, eingreifen. Und das würde aus großer Spannung nur noch mehr Spaltung machen. Wie wollen Sie das durchsetzen? Bei jeder Kontrolle ein Bußgeld, notfalls Zwangshaft? Außerdem würde eine Impfpflicht nicht helfen, um diese vierte Welle zu brechen, die insbesondere gerade in Bayern und Sachsen hochläuft. Da hilft akut nur Kontakte runter, es dem Virus schwer machen, sich zu verbreiten.

Sächsische Ärzte bereiten sich auf die Triage vor. Schließen Sie einen bundesweiten Lockdown für die Allgemeinheit aus?

Spahn In Sachsen wird das öffentliche Leben in Landkreisen mit einer sehr hohen Inzidenz durch staatliche Maßnahmen sehr stark heruntergefahren. Diese vierte Welle wird jetzt gen Westen durch Deutschland und Europa gehen. Die entscheidende Frage ist, wie hoch wird jeweils der Scheitelpunkt der Welle, wie stark die Belastung in den Krankenhäusern. Impfen, Testen und das Reduzieren von Kontakten machen da den Unterschied. Zu viele Deutsche befinden sich in ihrem Alltag und Kontaktverhalten noch zu stark im Normalmodus – und der passt nicht in diese gefährliche Zeit. Die Kanzlerin hat davon gesprochen, dass wir uns in der vielleicht schwersten Phase der Pandemie überhaupt befinden. Ich stimme ihr komplett zu.

Kommen wir zu der von Ihnen angekündigten Biontech-Rationierung. Markus Söder bezeichnet Ihr Vorgehen als „desaströs“. Was ist da passiert?

Spahn Zunächst einmal: Wir halten nichts zurück. Im Gegenteil. Es konnte bislang ohne Limit bestellt werden. Insgesamt wurden diese Woche 6 Millionen Dosen Biontech ausgeliefert. Das ist sehr viel und muss jetzt auch erst mal verimpft werden. Die Kühlschränke vor Ort sind jetzt voll – unser zentrales Biontech-Lager aber leer. Wir liefern ab jetzt das an Biontech, was neu reinkommt, sofort aus. Insgesamt sind so bis Jahresende 24 Millionen Impfungen mit Biontech möglich. Das Gute: Wir haben mit dem Impfstoff von Moderna eine sehr gute Alternative. Der ist ebenfalls sehr sicher und wirkt hervorragend. Und ist ausreichend auf Lager.

Biontech ist der beliebteste Impfstoff. Viele Menschen sind verunsichert, die Ärzteschaft ist auf der Zinne.

Spahn Ich verstehe den Ärger der Ärzteschaft, der Praxishelferinnen und -helfer, auch der Impfwilligen. Ich hätte ihn gerne vermieden. Wir hätten das besser erläutern müssen. Unser Ziel ist, möglichst schnell möglichst viele Menschen zu boostern. Wenn wir beide Impstoffe einsetzen, könnten wir bis Jahresende noch bis zu 50 Millionen Impfungen machen. Wenn wir nur auf Biontech allein setzen, tun wir deutlich weniger als möglich ist.  

Also hat Herr Söder mit seiner Kritik Recht?

Spahn Angesichts der Lage in Bayern empfehle ich, dass sich jeder in Wort und Tat auf seine Aufgaben konzentriert. Alles andere lenkt nur vom Eigentlichen ab.

Und – hilft Ihnen der Mainzer Biontech-Konzern jetzt?

Spahn Wir haben kurzfristig Lieferungen vorziehen können. Das ist aber ein komplizierter Prozess, der auch mit der EU abgestimmt werden muss. Wenn es möglich ist, mehr Biontech-Impfstoff zu bekommen, werden wir das versuchen.

Am 9. Dezember soll sich die MPK wieder treffen, um die Erfolge der Beschlüsse zu bewerten. Bringt das etwas?

Spahn Auf jeden Fall. Ich denke sogar, wir werden früher handeln müssen. Wir sehen ja, dass in Sachsen, Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen die Lage sehr ernst ist. Wir müssen wohl erstmals Patienten in großem Stil innerhalb Deutschlands verlegen. Das haben wir so noch nicht gehabt in der Pandemie. Das wird noch eine große Herausforderung werden.

Was könnte noch in den Instrumentenkasten reinkommen an Maßnahmen?

Spahn Man muss sich sehr genau anschauen, ob es schärfere Maßnahmen für Veranstaltungen, Bars und Clubs braucht. Das ist der Bereich, in dem weniger möglich ist durch das Auslaufen der epidemischen Lage nationaler Tragweite.

Sie schließen also Teil-Lockdowns nicht aus?

Spahn Ausschließen sollte man in dieser Lage gar nichts, so bitter das ist. Bis letzte Woche war die Rechtslage, dass es für Geimpfte und Genesene keine Einschränkung mehr gibt. Doch schon 2G plus ist nun eine notwendige Einschränkung auch für Geimpfte. Wichtig ist mir allerdings eins: Wir sollten alles tun, um Kita- und Schulschließungen zu vermeiden.

Heute ist die letzte Kabinettssitzung. Was  ist Ihre Bilanz, übergeben Sie ein bestelltes Haus?

Spahn Dieser Tag ist besonders, in der Tat. Denn heute geht eine Ära zu Ende. 16 Jahre Kanzlerin Angela Merkel. Sie hat uns gut durch viele Krisen geführt. Ich bin sicher, die Deutschen werden sie noch sehr vermissen. Unsere Bilanz im Gesundheitsministerium ist stark durch die Pandemie geprägt. Gleichwohl haben wir schon vorher viel angestoßen: die Digitalisierung im Gesundheitswesen endlich konkret gemacht, die Abwärtsspirale in der Pflege gestoppt, die Masernimpfpflicht eingeführt, die Konversionstherapie bei Schwulen und Lesben verboten. Ich bin stolz auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses Hauses. Sie haben sehr viel geleistet – vor und in der Pandemie.

Kommen wir zur Ihrer Partei: Hilft die Mitgliederbefragung,  die Wunden der CDU zu heilen?

Spahn Wenn wir zum ersten Mal in der Geschichte die Mitglieder befragen, dann am besten so, dass es auch zusammenführt. Es besteht die Chance, damit die Partei zu befrieden. Deswegen rate ich, dass man sich bei Fragen nach dem eigenen Favoriten öffentlich zurückhält und sich keine Lager bilden.

Was raten Sie der Union als größten Oppositionspartei?

Spahn Wir müssen unseren Markenkern wieder herausarbeiten. Innere Sicherheit, Migration, weltoffener Patriotismus – diese Debatten stehen  wieder an. Auch die Themen Soziale Sicherheit – Stichwort steigende Inflation – und das selbstbewusstere Wahrnehmen deutscher Interessen im Ausland werden an Schwung gewinnen. Aber in der Pandemie braucht es für das Land jetzt zunächst eine konstruktive Opposition. Corona steht im Mittelpunkt aller politischen Debatten.

Werden Sie sich erneut als Vize der Partei bewerben?

Spahn Ich will mithelfen, dass wir zu neuer Stärke finden. Mein Verzicht auf eine erneute Bewerbung ist mir nicht leicht gefallen. Denn es geht um die Zukunft unserer CDU.  Doch in der Pandemie habe ich als Bundesgesundheitsminister nur ein Thema. Alles andere ergibt sich dann.

(mün, tb)