Analyse Ein Brexit ohne Brexit

London · Die Brexit-Unterhändler haben sich auf einen technischen Scheidungsplan geeinigt. Ob sich das Abkommen freilich in London auch politisch durchsetzen lässt, ist höchst ungewiss. Denn wirklich zufrieden kann niemand sein.

Es handelt sich um die mutmaßlich dickste Scheidungsakte aller Zeiten: 585 Seiten umfasst das Dokument, in dem dargelegt ist, unter welchen Voraussetzungen Großbritannien am 29. März nach 45 Jahren Mitgliedschaft die EU verlassen kann. Der selbst für Experten nur mühsam zu durchdringende, in sperrigem Juristensprech abgefasste Text beschreibt die Modalitäten des Brexits, die die hässlichen Folgen der Scheidung für beide Parteien möglichst gering halten sollen. Es ist der Versuch einer gütlichen Einigung, aber angesichts des politischen Tumults, die das Papier in London auslöste, muss man sich fragen, ob dieser Kompromiss eine Chance hat, umgesetzt zu werden.

Zwar besteht kaum ein Zweifel, dass die 27 übrigen EU-Länder auf einem Sondergipfel am 25. November grünes Licht für das Austrittspapier geben werden. In London aber scheint eine Zustimmung mehr als ungewiss. Der Scheidungsplan, obwohl am Montagabend noch offiziell vom Kabinett gebilligt, löste am Dienstag eine schwere Regierungskrise aus, und angeblich sind inzwischen drei bis vier Dutzend konservative Abgeordnete im Unterhaus zum Putsch gegen Premierministerin Theresa May entschlossen.

Um den Brexit-Plan durchs Parlament zu bekommen, ist May definitiv auf Überläufer aus der Opposition angewiesen. Weil eine Gruppe fanatischer Brexiteers bei ihren Tories und wohl auch die Abgeordneten des nordirischen Koalitionspartners DUP dagegen stimmen werden, können eigentlich nur einige Dutzend Labour-Abgeordnete May retten. Die Premierministerin wird also versuchen, aus ihrer Schwäche eine Stärke zu machen und die beiden Lager gegeneinander auszumanövrieren. Den Austrittsgegnern wird sie im Falle einer Ablehnung mit einem Chaos-Brexit drohen, also einem EU-Austritt ohne Abkommen, dessen katastrophale Folgen sich niemand ausmalen mag. Den glühenden Austrittsbefürwortern, die das vermeintliche Joch der EU um jeden Preis abwerfen wollen, hat die Regierungschefin dagegen schon signalisiert, dass sie mit einer Totalblockade am Ende nur erreichen könnten, dass der gesamte Brexit in letzter Minute doch noch abgeblasen wird.

Immerhin wird die Forderung nach einem erneuten Brexit-Referendum, das May bisher kategorisch ablehnt, immer lauter. Und die Stimmung im Land hat sich gedreht. Seit klar ist, dass der Abschied aus der EU kein Spaziergang ist und mitnichten geradewegs ins Schlaraffenland führt, will eine klare Mehrheit der Briten mindestens über die Bedingungen eines möglichen Brexits abstimmen.

In diesem Punkt allerdings liegt noch sehr viel im Unklaren. Denn das jetzt vorgelegte Dokument ist nur ein „Entwurf“, der sozusagen die Leitplanken für künftige Verhandlungen über ein umfassendes Handels- und Partnerschaftsabkommen zwischen Großbritannien und der EU setzt. Dafür soll nach dem 29. März eine zweijährige Übergangfrist beginnen, die Ende 2020 endet, gegebenenfalls aber auch verlängert werden kann. Und damit ist zu rechnen, denn kaum jemand glaubt ernsthaft, dass ein solches Abkommen in nur 21 Monaten unterschriftsreif sein könnte. Mit Kanada etwa verhandelte die EU sieben Jahre lang über ein Freihandelsabkommen.

Großbritannien würde in dieser Zeit faktisch EU-Mitglied bleiben und sämtliche Regeln befolgen müssen – ohne freilich künftig in Brüssel mitreden zu können. Dass die Briten obendrein für ihre finanziellen Verpflichtungen – eine Summe irgendwo zwischen 45 und 50 Milliarden Euro – geradestehen müssen, steht schon länger fest. Außerdem wird die Insel bis zum Abschluss eines Handelsabkommens in einer Zollunion mit der EU bleiben, um eine harte Grenze in Irland zu vermeiden. Weil das Land auf diese Weise einen direkten Zugang zum EU-Binnenmarkt behält, wird London auch dessen Regeln vorerst respektieren müssen. Auch die Entscheidung, wann die vereinbarte Übergangsfrist endet, kann die britische Regierung nicht im Alleingang, sondern nur in Übereinstimmung mit der EU treffen.

Unterm Strich skizziert das Kompromisspapier also einen Brexit, in dem nicht mehr sehr viel Brexit steckt. Im Grunde haben die Briten nur zwei wichtige Punkte durchsetzen können: London wird künftig keine volle Freizügigkeit für EU-Bürger mehr garantieren müssen und darf schon während der Übergangsphase eigene Handelsabkommen mit Drittstaaten abschließen. Das erste Zugeständnis hatte allerdings bereits Mays Vorgänger David Cameron der EU schon vor dem Referendum abgerungen, und das Mindeste was man sagen muss ist, dass sich die hochgespannten britischen Erwartungen an eine eigenständige Handelspolitik bisher nicht recht erfüllen mögen.

Wirklich überraschend ist dieses Ergebnis nicht, beruht die gesamte britische Brexit-Strategie – wenn man überhaupt von so etwas sprechen kann – doch auf einer langen Kette von Fehleinschätzungen. Wer in den vergangenen zweieinhalb Jahren mit britischen Diplomaten oder Regierungsvertretern sprach, der hörte vor allem lautes Pfeifen im Wald. Erst wollten Londons Unterhändler die EU-Staaten spalten, um einen Vorzugsdeal herauszuschinden, wobei Deutschland als natürlicher Verbündeter galt. Dann sollten die Gespräche über ein Handelsabkommen vorgezogen werden, dann wieder wurde gedroht, frühere Zugeständnisse, vor allem die Milliarden-Zahlungen in die EU-Kasse, wieder zurückzunehmen.

Der Brexit, der jetzt auf dem Tisch liegt, dürfte die Kollateralschäden zwar gering halten, aber er liefe wohl auf eine Juniorpartnerschaft Großbritanniens mit der EU hinaus. Es ist ein Deal, der das Schlimmste verhindert, aber niemanden befriedigt. Und ein Beleg dafür, welche gravierenden Folgen politische Entscheidungen aus dem Bauch haben können.

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