Sommerinterview mit Thomas de Maizière "Islam aus den Hinterhöfen holen"

Berlin (RPO). Sommerinterview: Ein Spaziergang mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) durch die Bundesrepublik - und ein Gespräch über die Sarrazin-Debatte, Sicherheitsverwahrung, seinen Wunsch nach einem "Radiergummi" fürs Internet und die Schwierigkeit, Politik zu steuern.

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Foto: ddp

Viele sind sensibilisiert durch die Pläne von Google Street View. Warum wollen Sie die Privatsphäre nicht stärker schützen?

De Maizière Das Gefühl, dass es durch Programme wie Google Street View Eingriffe in die Persönlichkeitssphäre gibt, ist verständlich. Dieses Unbehagen ist auch grundsätzlich berechtigt. Aber es hängt am falschen Objekt. Fassaden und Plätze sind nun einmal öffentlich. Ich finde: Der Blick in den Garten, den andere Programme erlauben, ist ein viel größeres Problem als der auf die Fassade. Aber es gibt auch Geodienste mit sehr sinnvollen Abbildungen der Erde: Überschwemmungsgebiete, Verkehrsströme, Klimaveränderungen. Wir würden über viele wichtige Bereiche nur wenig wissen, wenn wir keine Geodienste hätten. Darin stecken unglaubliche Chancen, insbesondere auch für den schonenden Umgang mit der Natur. Wir müssen also aufpassen, dass wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Hinzu kommt, dass sich Satelliten nicht an nationalstaatliche Gesetze halten.

Sie wollen noch in diesem Monat einen Vorschlag zur Regelung machen. Woran orientieren Sie sich?

De Maizière Wenn ich ein möglichst genaues GPS-System in meinem Auto nutzen will, muss ich zulassen, dass das System weiß, wo sich mein Auto befindet. Wenn die Menschen sich vor einer Hausbesichtigung im Internet über das Grundstück informieren wollen, dürfen sie sich nicht wundern, dass es Blicke in den Garten gibt. Deshalb kommt es auf das Maß an: Was ist wirklich schutzwürdig? Es gibt das Modell der Widerspruchslösung; dieses setzt aber voraus, dass ich weiß, wer was macht, damit ich dem dann widersprechen kann. Das ist natürlich ein faktisches Problem bei vielen internationalen Diensten, die gar keinen Sitz in Deutschland haben. Deshalb geht es insbesondere um die Frage, ob wir einen Auskunftsanspruch schaffen und darauf aufbauend dann einen Löschungs- und Schadensersatzanspruch. Vielleicht sind die Regeln, die dem Nachbarrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches zugrunde liegen, kluge Lösungen.

Inwiefern?

De Maizière Die Regeln besagen, dass ein Birnbaum grundsätzlich auch über den Zaun wachsen darf, solange es den Nachbarn nicht stört; aber wenn es ihn stört, dass Äste auf sein Grundstück hinüberwachsen, müssen diese Äste abgeschnitten werden. Die Initiative muss also vom Einzelnen ausgehen. Sie muss dann allerdings auch mit wirksamen Sanktionen versehen sein. Andererseits: Wenn einer sich keine Gardinen kauft, weil er das spießig findet, kann er nicht vom Staat verlangen, dass der ihn besser vor der Einsichtnahme schützt.

Die Astschere des alten Gesetzbuches ist im Internetzeitalter der digitale Radiergummi?

De Maizière Ja. Und deshalb will ich ihn. Die ganze Menschheitsgeschichte beruht doch darauf, dass man auch mal etwas vergessen darf. Das Vergessenkönnen ist konstitutiv für humanes menschliches Zusammenleben. Jede Familie weiß, wie wichtig ein "Schwamm drüber" ist. Angeblich vergisst das Internet aber nichts. Wir müssen den Einzelnen deshalb mit dem Recht ausstatten, dass er von einem anderen - nach noch zu bestimmenden Voraussetzungen - das Löschen von Daten verlangen kann.

Sie saßen vier Jahre da drin, jetzt schauen Sie von außen darauf. Welche Gefühle haben Sie?

De Maizière Sehr gute. Das waren vier wundervolle, vier verantwortungsvolle Jahre. Auch sehr, sehr anstrengende Jahre.

Ist also Politik steuerbar?

De Maizière Klar, Politik muss gesteuert werden. Aber es wäre naiv zu glauben, dass Politik allein vom Kanzleramt aus oder überhaupt ganz gesteuert werden könnte. Vielleicht ist das von einer übergeordneten Perspektive aus gesehen auch richtig so, denn ich möchte nicht in einem Land leben, wo Politik von einer Stelle gesteuert werden kann.

Die schwarz-gelbe Koalition bemühte sich um den Eindruck, als liefe Politik vor allem ungesteuert und chaotisch ab.

De Maizière Diese Debatten haben wir hinter uns. Wir brauchen nicht immer neue Wasserstandsmeldungen über den Zustand der Koalition. Wir haben jetzt sehr, sehr schwierige Fragen zu ordnen und zu entscheiden. Wir tun das, und dann wird sich zeigen, dass die Substanz der Koalition gut ist.

Hat sich Schwarz-Gelb überlebt? Die Bürger scheinen mehr auf die grüne Politik zu setzen.

De Maizière Durch die eigene Arbeit der Grünen ist das jedenfalls nicht begründet, die kommen derzeit im Schlafwagen auf 20 Prozent. Wenn eine Regierung schwierige Dinge macht, sinken die Umfragewerte, das ist überall so in Europa. Aber abgerechnet wird am Wahltag, alles andere sind nur unverbindliche Momentaufnahmen.

Die Bundeskanzlerin will jetzt stärker durchgreifen. Merken sie es schon?

De Maizière An der Führungskraft und Entschlossenheit der Bundeskanzlerin habe ich nie gezweifelt. Die erschöpft sich nicht in dem, was die Medien wahrnehmen oder nicht wahrnehmen - Gott sei Dank!

Können Sie verstehen, dass die Bürger am Staat zweifeln, wenn der gefährliche Straftäter auf freien Fuß setzt?

De Maizière Ja. Und wir nehmen diese Sorgen der Bürger sehr, sehr ernst. Gerade deshalb haben wir so sorgfältig daran gearbeitet, bei dem Thema der Sicherungsverwahrung die bestmögliche Lösung zu finden. Es macht keinen Sinn, ein Gesetz zu formulieren, das wieder aufgehoben wird. Bei der Sicherungsverwahrung standen wir vor dem Problem, dass Täter nach Verbüßen ihrer Strafe eigentlich frei kommen müssen, wir deshalb argumentierten, sie seien nicht weiter in Haft, obwohl sie wie andere Strafgefangene untergebracht waren. Jetzt wollen wir erreichen, dass Täter außerhalb der Strafhaft sicher untergebracht sind.

Von den Bundesländern werden dennoch starke Bedenken geäußert.

De Maizière Das ist immer so. Manche argumentieren so, als handele es sich um reine Gefahrenabwehr. Dann wären aber die Länder alleine zuständig, was sie wiederum auch nicht wollen. Wir sind an die Grenze dessen gegangen, was der Bund machen kann. Wir prüfen, ob wir auch die Personen mit diesem Gesetz erfassen können, die bereits entlassen sind.

Was wird von Sarrazin übrig bleiben?

De Maizière Herr Sarrazin provoziert gerne. Jetzt provoziert er zum Gelderwerb. Wir sollten uns von ihm nicht die politische Debatte bestimmen lassen. Aber ich möchte betonen: Es stimmt nicht, wenn nun mancherorts der Eindruck erweckt wird, dass Sarrazin zum ersten Mal die richtigen Fragen gestellt habe, dass sich da endlich mal einer traut, Tabus anzusprechen und aufzubrechen. Die im Zuge der aktuellen Debatte diskutierten Fragen stellen wir nicht nur seit langem, wir beantworten sie auch. Wir stellen beispielsweise die höhere Gewaltbereitschaft ausländischer Jugendlicher dar und gehen dagegen vor. Wir haben die Integrationskurse für manche Ausländer zur Pflicht gemacht. Wir können und sollten den Hartz-IV-Satz für junge Leute kürzen, die den Arbeitsaufforderungen nicht folgen. Es ist viel passiert in den letzten Jahren. Aber es geht nicht alles über Nacht. Es bleibt noch viel zu tun. Wir brauchen aber keinen Nachhilfeunterricht in der Analyse, wir brauchen mehr gemeinsame Anstrengungen bei der Umsetzung von deren Ergebnissen.

Die Bildung ist der Schlüssel, gerade für junge Ausländer. Geschieht hier genug?

De Maizière Es gibt kaum einen Politikbereich mit derartigen Ausgabenzuwächsen wie zum Beispiel die frühkindliche Bildung. Da ist in den letzten vier Jahren mehr passiert als in allen Jahrzehnten zuvor. Hier so zu tun, als geschehe nichts, ist falsch und wirkt zerstörerisch.

Sind Sie mit dem Neustart der Islamkonferenz auch zufrieden?

De Maizière Ja. Wir haben da zum Beispiel das wichtige Thema des Religionsunterrichtes zu einem Schwerpunkt gemacht. Denn wir wollen, dass islamischer Religionsunterricht nicht in den Hinterhöfen von Moscheen stattfindet, sondern in unseren Schulen. Wir wollen, dass Imame in Deutschland ausgebildet werden und auch in deutscher Sprache agieren. Wir beschäftigen uns mit der Gleichstellung der Geschlechter und mit dem Verhältnis von Islam und islamistischem Terrorismus. Für die Akzeptanz des Islam in Deutschland sind das zentrale Fragen. Daran muss man hart arbeiten und darf nicht nur irgendwelche Thesen in die Welt setzen.

Die Zusammensetzung Ihrer Islamkonferenz wird kritisiert.

De Maiziere Ich würde es wieder so entscheiden. Ich kann nicht mit einem Verband an einem Tisch sitzen, wenn der Staatsanwalt gegen führende Funktionäre seiner maßgeblichen Unterorganisation wegen schwerer Delikte ermittelt.

Viele türkischstämmige Jugendliche sind ohne Arbeit und ohne Ausbildung. Ist das eine verlorene Generation?

De Maizière Die Entscheidung von Sonntag wird in einen Gesetzentwurf münden, der nicht der Zustimmung des Bundesrats bedarf. Dabei geht es verfassungsrechtlich um die Frage, ob eine rein quantitative Veränderung der Aufgabe der Länder bei einer Bundesauftragsverwaltung die Zustimmungspflicht auslöst. Dies kann nach einem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts allenfalls dann der Fall sein, wenn diese Veränderung der Aufgabe schwerwiegend ist. Bei einer Laufzeitverlängerung von gut einem Drittel ist das nicht der Fall.

Bundespräsident Christian Wulff tendiet aus verfassungsrechtlichen Gründen angeblich für eine relativ kurze AKW-Laufzeitverlängerung. Sie sind nun zu einem anderen Ergebnis gekommen.

De Maizière Die Entscheidung von Sonntag wird in einen Gesetzentwurf münden, der nicht der Zustimmung des Bundesrats bedarf. Dabei geht es verfassungsrechtlich um die Frage, ob eine rein quantitative Veränderung der Aufgabe der Länder bei einer Bundesauftragsverwaltung die Zustimmungspflicht auslöst. Dies kann nach einem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts allenfalls dann der Fall sein, wenn diese Veränderung der Aufgabe schwerwiegend ist. Bei einer Laufzeitverlängerung von gut einem Drittel ist das nicht der Fall.

Der Umweltminister plädiert für kurze AKW-Laufzeiten, der Verteidigungsminister will die Wehrpflicht abschaffen. Was ist los mit der CDU?

De Maizière Die rot-grüne Regierung hat es sich leicht gemacht und ist einfach mal ausgestiegen aus der Atomkraft, ohne ein Energiekonzept zu haben. Und diejenigen, die das mitgemacht haben, sagen uns heute in Anzeigen, wir sollen das rückgängig machen. Das finde ich ein bisschen komisch. Dass nach Überwindung des Kalten Krieges heute sicherheitspolitisch andere Konzepte für die Bundeswehr notwendig sind, darf doch eine Volkspartei ernsthaft diskutieren. Das verdient Lob, nicht Tadel.

Inwiefern ist die CDU heute noch konservativ?

De Maizière Die CDU ist konservativ, weil sie sich in Bereichen wie der öffentlichen Sicherheit zu einem starken Staat bekennt. Wir sind nicht der Auffassung, dass der Staat ein Schwächling sein sollte. Wir sind konservativ in der Haltung. Damit meine ich, dass man nicht in allen Fragen erst mal dick aufträgt, dass die Substanz wichtiger ist als das Geschrei. Wenn zur Mäßigung gemahnt wird, ist das im besten Sinne konservativ.

(RP)
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