Meinung Seneca für Deutschland

Die Verführung ist groß, in Depression zu versinken angesichts der Ereignisse – von der Flüchtlingskrise bis zum Fußball. Das wäre aber erstens unangemessen und zweitens unvernünftig. Der Ratschlag lautet: stoischer werden.

 Peter Paul Rubens: Der sterbende Seneca, 1612/13.

Peter Paul Rubens: Der sterbende Seneca, 1612/13.

Foto: picture-alliance / akg-images/akg-images

Nichts funktioniert mehr! Die Regierung: ein zerstrittener Haufen. Die Autoindustrie: der Ruf ruiniert durch den Abgasskandal. Und jetzt auch noch die Nationalmannschaft: kläglich gescheitert in der Vorrunde der Weltmeisterschaft, zum ersten Mal überhaupt. Drei scheinbare deutsche Selbstverständlichkeiten – die vergleichsweise geräuschlose Effizienz seiner Führung, die exzellente Reputation seiner Industrie, die Erfolge seiner Fußballspieler – sind im Sommer 2018 infrage gestellt.

Nichts funktioniert mehr? Na ja. Die Züge fahren noch, VW macht Rekordgewinne, die Staatsschuldenquote sinkt, der Rechtsstaat funktioniert (auch wenn die Populisten noch so oft das Gegenteil behaupten). Es mag zudem geschmacklos klingen, den Flüchtlingsstreit in einem Atemzug zu nennen mit einem Ausscheiden bei der WM. Ist nicht Fußball nur ein Spiel, ein Milliardenspiel zwar, aber doch ein Spiel? Natürlich. Aber ein Spiel, das regelmäßig 20 bis 30 Millionen Menschen vor dem Fernseher versammelt, geht eben über bloße Freizeitgestaltung hinaus. Sportliche Erfolge beeinflussen die nationale Identität, wie die Politik, wie die Wirtschaft.

Eine gewisse kollektive Erschütterung in diesen Tagen darf man also getrost unterstellen. Wie aber damit umgehen? Das könnte man die Philosophen fragen. Dann gelangt man unweigerlich zu den Stoikern. Im Erschütterungsabfederungsbusiness ist die Philosophenschule der Stoa sozusagen international führend, und zwar seit gut 2000 Jahren. Manches von dem lässt sich durchaus für heute nutzen.

Der Ansatzpunkt ist das, was wir heute umgangssprachlich unter stoischer Haltung verstehen. Die Originalstoiker haben dafür ein herrliches griechisches Wort: Ataraxia, Unerschütterlichkeit gegenüber Widrigkeiten. Lucius Annaeus Seneca, der wohl bedeutendste römische Stoiker, hat es so gesagt: „Wir sollten uns über nichts von dem wundern, wozu wir geboren sind. Diese Bedingung des Lebens können wir nicht ändern. Das aber können wir: Seelenstärke annehmen, mit der wir tapfer alle Zufälligkeiten ertragen.“ Wenn man den hohen Ton etwas zurücknimmt, ist recht klar, was gemeint ist.

Noch nicht klar ist dagegen ohne Weiteres, was uns das 2018 sagen sollte. Vielleicht etwa das Folgende: Die stoische Unerschütterlichkeit ist keine billige Wurstigkeit, nicht das „I really don’t care“ auf der Jacke von Melania Trump, und auch keine buddhistische Lebensverachtung. Es ist eine aus täglicher Betätigung gewonnene Einsicht. Die Stoiker unterteilen die Dinge in Gutes, Schlechtes und Indifferentes. Gutes ist zu erstreben, Schlechtes zu vermeiden, der Rest (Geld etwa) kann helfen auf dem Weg zu Weisheit und Glück, aber auch schaden. Und über allem steht eben das Schicksal, das wir ohnehin nicht ändern können.

Die Erkenntnis aber, was gut und was schlecht ist, wichtig oder unwichtig, erwächst aus vernunftgeleiteter Betrachtung. Emotionale Reflexe wie Wut sind schädlich, weil sie den Geist versklaven. Seneca (der auch ein großer Tröster war, schon deshalb könnte man ihn nach dem 0:2 mal wieder zur Hand nehmen) predigte stets, der Mensch solle der Natur gemäß leben, die planvoll und gut eingerichtet sei. Das klingt heute naiv, wenn auch die meisten der großen Unbilden, mit denen wir zu kämpfen haben (Krieg, Flucht, Krisen, vermutlich sogar der Klimawandel), nicht natürlich sind, kein blindes Geschick, sondern menschengemacht.

Die modernen Stoiker haben „die Natur“ deshalb als „die Fakten“ neu gedeutet. In Zeiten von Fake News und Wissenschaftsverachtung ist das ein Appell an entschiedene Rationalität im Denken und Handeln. Und zwar im pragmatischen Handeln: „Nachdem wir hinter uns gelassen haben, was nicht oder nur schwierig zustande zu bringen ist, sollten wir uns solchen Dingen zuwenden, die näherbei sind und in Reichweite unserer Hoffnung.“ Dass es dabei nicht ohne Kompromisse abgeht zwischen Ideal und Wirklichkeit, das weiß auch Seneca.

All das zusammengenommen könnte zu Rückschlüssen auf die aktuelle Lage führen. Man könnte zu der Ansicht kommen, das Aus in Russland schaffe vielleicht wieder Raum für anderes in der kollektiven Wahrnehmung. Man könnte zu der Ansicht kommen, und so scheint es zu passieren, dass der Streit um die Zurückweisung an den Grenzen es nicht wert ist, eine Regierung zu sprengen. Man könnte zu der Ansicht kommen, das aber ist leider noch nicht in Sicht, dass die Streitereien in der Union den Blick für Drängenderes vernebeln, nämlich zum Beispiel den Überlebenskampf der Elenden auf ihren Schlauchbooten im Mittelmeer. Man könnte zu der Ansicht kommen, dass man nicht darum schachern sollte, wer diese Menschen aufnimmt, nach dem Motto: Ich nur, wenn du auch welche nimmst, sondern mit gutem Beispiel vorangehen sollte – wenn sich schon in den Herkunftsländern auf die Schnelle nichts ändern lässt. Man könnte zu der Ansicht gelangen, dass das eine christliche Politik wäre, die ihren Namen verdient.
      Man könnte zu der Ansicht kommen, dass es endlich Zeit für klare Worte an den italienischen Innenminister Matteo Salvini ist, der von „Menschenfleisch“ spricht, wenn er Flüchtlinge und Migranten meint, und allen seine Unterstützung verspricht, die die Küstenwache anweisen, auf SOS-Rufe nicht mehr zu reagieren. Man könnte sich die Frage stellen: Wie weit haben wir es eigentlich kommen lassen in Europa?

Seneca für Deutschland also! Er muss ja nicht gleich Bundeskanzler werden – seine Art der Ansprache dürfte heute leicht veraltet sein. Aber als eine Art Bundesmentaltrainer wäre er eine gute Besetzung. Und für uns heißt das: nicht so sehr grämen über den Fußball. Der ist nun wirklich Schicksal.

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