Migrationsdebatte in Deutschland Die Mär vom importierten Antisemitismus

Analyse | Düsseldorf · Ist Israelhass vor allem durch Zuwanderung verstärkt auf deutschen Straßen zu spüren? Der Nahostkonflikt bietet nach der Flüchtlingskrise 2015 dieser Debatte wieder Raum. Dabei gibt es „importierten Antisemitismus“ aus Sicht der Forschung nicht. Die Lage ist komplizierter.

 „Antizionismus ist kein Antisemitismus“ behauptet ein Demonstrant mit seinem Schild auf einer Pro-Palästina-Demo in Wuppertal. Das Gegenteil ist richtig.

„Antizionismus ist kein Antisemitismus“ behauptet ein Demonstrant mit seinem Schild auf einer Pro-Palästina-Demo in Wuppertal. Das Gegenteil ist richtig.

Foto: dpa/Christoph Reichwein

Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle kam die Warnung gewissermaßen von oberster Stelle: „Unter den Menschen, die in Deutschland Zuflucht suchen, stammen sehr viele aus Ländern, in denen Israel zum Feindbild gehört“, sagte der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, einst bei einem Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Kanzleramt. „Sie sind mit dieser Israelfeindlichkeit aufgewachsen und übertragen ihre Ressentiments häufig auf Juden generell, sagte Schuster damals, der die Sorge aus jüdischer Sicht genauso klar formulierte, wie sie auch aktuell durch die Ereignisse im Nahen Osten wieder präsent ist. Nämlich, dass der „arabischstämmige Antisemitismus in Deutschland zunimmt“.

Zwar betonte der Präsident des Zentralrates der Juden und Jüdinnen in Deutschland, er wolle damit die Flüchtlinge nicht pauschal verdächtigen, stimmte damit allerdings unwillkürlich ein in die Rufe der Rechtspopulisten und Rechtsextremen. Vorneweg die AfD, die sich nicht zuletzt mithilfe ihrer Maxime „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ nach und nach in die Parlamente der Republik beförderte. Und auch jetzt wieder im Umfragehöhenflug ist. Grund dafür ist nicht nur der Nahost-Krieg, der teilweise puren Judenhass auf die Straßen von Berlin, Essen oder Düsseldorf bringt, was die AfD für sich zu nutzen weiß. Die gesamte politische Debattenlage über Zuwanderung und Asylverfahren, in die der aufflammende Nahostkonflikt hineinragt, bietet einen Resonanzraum, den es seit dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise nicht gab. So findet die AfD gerade durchaus Gehör, wenn sie von „Migranten-Antisemitismus“ spricht und Maßnahmen dagegen fordert – wie ausgerechnet am 9. November, als die AfD-Fraktion im Bundestag einen entsprechenden Antrag stellte. Darin fordert sie die Bundesregierung auf, den „importierten Antisemitismus“ als „ernst zu nehmende wachsende Bedrohung für unser gesamtes westliches Wertesystem“ dringend prioritär zu bekämpfen. Also Abschiebungen voranzutreiben.

Gibt es „importierten Antisemitismus“ überhaupt? Wie wird er definiert, wer sind die vermeintlichen Importeure? Ist Antisemitismus unter Menschen mit Migrationshintergrund weiter verbreitet als in der deutschen Gesellschaft? Schon in den so formulierten Fragen stecken Teile des Problems, denn sie setzen eine einheitliche, trennscharfe Definition voraus, etwa für Antisemitismus, für Migrationshintergrund, für die deutsche Gesellschaft. Laut bisheriger Definition haben Menschen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt. Das trifft laut Statistischem Bundesamt (Stand 2022) auf 28,7 Prozent aller Einwohner und Einwohnerinnen der Bundesrepublik zu, jeden Vierten in diesem Land. Das ist also nur bedingt aussagekräftig. Ganz davon abgesehen, dass von diesen 23,8 Millionen Menschen nur 5,5 Millionen muslimischen Glaubens sind – aber oft von muslimisch importiertem Israelhass geredet wird. Darin liegt die nächste Ungenauigkeit: Antisemitismus ist nicht zwingend religiös bedingt, auch hier wird selten differenziert.

Klassischer Antisemitismus etwa meint die Weltsicht, das jüdische Menschen qua ihrer biologischen Gegebenheiten bestimmte Eigenschaften haben. Sekundärer Antisemitismus dagegen gründet vor allem auf Relativierung oder Leugnung des Holocaustes, oft verbunden mit der Forderung nach einem Ende der „Schuld“ oder einer Täter-Opfer-Umkehr. Als dritte Form gibt es den israelbezogenen Antisemitismus, bei dem die Stereotype auf den Staat Israel übertragen werden. Und je nachdem, welche Ausprägung von Antisemitismus man betrachtet, weisen Menschen mit Migrationshintergrund oder Musliminnen und Muslime höhere oder aber eben geringere antisemitische Einstellungen auf als alle anderen.

„Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es keine eindeutigen Ergebnisse“, erklärt Wissenschaftlerin Sina Arnold, die für das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt an der TU Berlin sämtliche Studien der vergangenen zehn Jahre zu diesem Thema zusammengefasst und im Frühjahr veröffentlicht hat. „Der Begriff ,importierter Antisemitismus‘ hilft überhaupt nicht, zu verstehen, was eigentlich los ist“, sagt Arnold. Es schwinge der Subtext mit: Da kommt etwas von außen und wird eingebracht in eine Gesellschaft, in der es so etwas vorher gar nicht gab. „Wir wissen aber, dass das nicht der Fall ist.“

Zu Menschen mit Migrationshintergrund gebe es solche und solche Studien; manche fänden höhere, manche niedrigere und manche gleiche Werte von klassischem Antisemitismus im Vergleich zu Menschen ohne Migrationshintergrund. Unter Muslimen sei die Forschungslage etwas eindeutiger: Sie weisen allgemein höhere Zustimmungswerte auf als Nicht-Muslime. Die „Mitte-Studie“ von 2012 etwa hatte höhere Zustimmungswerte erkannt: 12 Prozent der Gesamtbevölkerung, jedoch 17 Prozent der muslimischen Deutschen stimmten klassisch antisemitischen Aussagen zu. „Immer wieder betrifft das aber auch Menschen, die nicht nur den deutschen Pass haben, sondern auch deutsche Institutionen durchlaufen haben: Kindergarten, Schule, Ausbildung“, sagt Sina Arnold, „da muss man genau hinschauen, wo das herkommt.“ Von Import könne pauschal jedenfalls nicht die Rede sein. Exakter müsse man schon bei der Form sein, um welchen Antisemitismus es sich handelt: Ist es etwa ein linker, antizionistischer, ein arabisch-nationalistischer oder ein religiös geprägter islamistischer Antisemitismus?

Auch ein Blick in die Statistiken über antisemitische Vorfälle und Straftaten bringt kaum Licht ins Dunkle: Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) differenziert nämlich bei der Erfassung antisemitischer Straftaten grundsätzlich nicht nach Migrationshintergrund oder Glaubenszugehörigkeit, sondern nur nach der politischen Einstellung. Für die 3027 erfassten antisemitischen Straftaten im Jahr 2021 geht die Polizei von 84 Prozent rechtsextremen Motiven aus. In vier Prozent der Vorfälle wird „ausländische Ideologie“ als Motiv vermutet („eine aus dem Ausland stammende nicht religiöse Ideologie); und nur zwei Prozent der Straftaten werden dem Phänomenbereich „religiöse Ideologie“ zugeordnet („islamistisch motivierter Terrorismus/Extremismus“).

Was Experten und Expertinnen wie Sina Arnold beklagen, ist, dass zwar immer wieder viel über religiöse Gründe gesprochen wird, aber (zu) wenig über säkulare – die zum Beispiel im arabischen Nationalismus begründet sind. Antizionismus ist in vielen arabischen Staaten ein Herrschaft stabilisierendes Leitmotiv der Regime, etwa in Syrien, Afghanistan und dem Irak. „Moscheen auf deutschem Boden, die Hass verbreiten, kann man beeinflussen, syrische Schulbuchinhalte nicht“ – Sina Arnold sieht die Bildungslandschaft unter Zugzwang. Die Schule sei schließlich ein Ort, den jeder in Deutschland durchlaufen müsse, wo man junge Menschen gezielt erreiche. In Nordrhein-Westfalen gibt es zumindest konkrete Pläne, Lehrkräfte schon im Studium auf den Umgang mit Rassismus und Antisemitismus vorzubereiten, es als Teil der Lehramtsausbildung festzuschreiben.

So komplex die Forschungslage sei, eines zeige sie: Dass bei Zugewanderten ein positiver Faktor die Dauer der Zeit ist, die sie in Deutschland leben, sagt Sina Arnold. Darauf allein sollte sich allerdings niemand verlassen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
Und jetzt?
Karlsruhe erklärt Schulden-Trick für verfassungswidrig Und jetzt?