Valéry Giscard D'estaing "Ich rollte im Panzer nach Deutschland"

Der frühere französische Staatspräsident beleuchtet anlässlich der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags vor 50 Jahren das heutige Verhältnis der einst verfeindeten Nachbarn, äußert sich zum Verhältnis Merkel–Hollande und zum Zustand Europas.

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Foto: afp, PHILIPPE HUGUEN

Der frühere französische Staatspräsident beleuchtet anlässlich der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags vor 50 Jahren das heutige Verhältnis der einst verfeindeten Nachbarn, äußert sich zum Verhältnis Merkel—Hollande und zum Zustand Europas.

Am Dienstag wird in Berlin mit großem Pomp das Jubiläum 50 Jahre Elysée-Vertrag begangen. Es wird da wieder viele schöne Reden zur deutsch-französischen Freundschaft geben. Ist das nicht ein bisschen scheinheilig angesichts der großen Divergenzen, die es derzeit zwischen Deutschland und Frankreich gibt?

Giscard Nun, was in den Köpfen der einzelnen Politiker vorgeht, wenn sie am Dienstag ihre Reden halten, ob sie wirklich glauben, was sie sagen, das lasse ich mal dahingestellt. Aber dass diese außerordentliche und im Übrigen völlig unersetzliche Freundschaft zwischen zwei Ländern gefeiert wird, das ist eine sehr gute Sache. Meine Lebensgeschichte ist doch der beste Beleg, was da geleistet wurde: Ich bin in Koblenz geboren, als Sohn eines Offiziers der Besatzungsarmee, die das Rheinland okkupiert hatte.

Als ich das nächste Mal nach Deutschland kam, war ich selbst Offizier und fuhr in einem Panzer. In meiner Generation fiel es sehr schwer zu glauben, dass sich Deutschland und Frankreich jemals vertragen würden. Schauen Sie sich an, was daraus geworden ist! Das allein ist es wert, gefeiert zu werden — auch wenn es gerade mal wieder Streit gibt.

Aber hat die derzeitige Krise nicht doch einen Spaltkeil in unsere Beziehung getrieben?

Giscard Sie hat das Verhältnis verändert, das ist schon wahr. Das liegt vor allem daran, dass Frankreich und Deutschland heute nicht in derselben Lage sind und daher notwendigerweise die politischen Prioritäten anders setzen. Deutschland hat unter Bundeskanzler Gerhard Schröder Wirtschafts- und Sozialreformen eingeleitet, die unter Angela Merkel fortgeführt wurden. Gleichzeitig haben wir in Frankreich die 35-Stunden-Woche eingeführt und zu wenig auf das Staatsdefizit geachtet. Resultat: Deutschland steht heute trotz der Krise sehr gut da, während Frankreich gewaltige Probleme hat. Präsident François Hollande betont bei der Bekämpfung der Krise stärker den Aspekt des Wirtschaftswachstums, die Kanzlerin stärker den des Sparens. Aber meiner Ansicht nach sind das Nuancen, denn am Ende wollen doch beide das Gleiche erreichen.

Was passiert, wenn Frankreich wirtschaftlich dauerhaft hinter Deutschland zurückfällt — gefährdet das nicht auch die politische Allianz, die immer dadurch definiert war, das man sich auf Augenhöhe begegnete?

Giscard Es ist auf jeden Fall eine neue Herausforderung. Bis in die 80er Jahre lagen Frankreich und Deutschland wirtschaftlich in etwa gleichauf. Nach der deutschen Wiedervereinigung lief es sogar einige Jahre in Frankreich besser als in Deutschland. Heute muss es darum gehen, dass Frankreich möglichst schnell wieder zu Deutschland aufschließt. Das ist aber eine Aufgabe, die hier bei uns gelöst werden muss. Und sie muss jetzt sehr schnell und sehr entschlossen angegangen werden — so wie seinerzeit in Deutschland.

Die Krise hat auch dazu geführt, dass nationalistische Parolen in Europa wieder lauter zu hören sind. Beunruhigt Sie das?

Giscard Natürlich beunruhigt mich das. Aber ist daran wirklich die Krise schuld? Oder sind es nicht vielmehr die Politiker, die es nicht mehr schaffen, über ihren nationalen Tellerrand hinauszuschauen? Schauen Sie, im letzten französischen Präsidentschaftswahlkampf war von Europa praktisch nicht die Rede, und wenn, dann nur negativ. Das ist doch unglaublich! Ein de Gaulle oder ein Adenauer, die haben es verstanden, jenseits der aktuellen Debatte die große politische Perspektive ins Bild zu rücken. Das fehlt heute. Angela Merkel ist so ziemlich die einzige Regierungschefin, die das wenigstens ab und an versucht.

Das Verhältnis Merkel-Hollande scheint weiterhin sehr unterkühlt. Wie wichtig sind die persönlichen Beziehungen zwischen Kanzlern und Staatspräsidenten für die Politik?

Giscard Sie sind sehr wichtig, keine Frage. Es wäre falsch, den Einfluss der persönlichen Beziehung zu überschätzen. Aber wenn das Verhältnis zwischen zwei Politikern sehr gut ist, dann kann das gerade in schwierigen Momenten den Unterschied ausmachen. Dann kann man so manche Klippe überwinden.

Das scheint früher — auch zu Ihrer Amtszeit — aber besser funktioniert zu haben. Woran liegt das?

Giscard Ich hatte auch Glück. Meine Zusammenarbeit mit Helmut Schmidt war so etwas wie das goldene Zeitalter der deutsch-französischen Beziehungen. Wir haben sehr schnell einen persönlichen Draht zueinander gefunden, und wir hatten sehr ähnliche politische Ansichten, wie man die Probleme anzugehen habe. Und wir mussten uns schnell zusammenraufen, denn schon damals gab es eine schwere Währungskrise zu meistern. Ich will nicht behaupten, dass wir uns nicht auch manchmal gestritten haben. Aber daraus ist schließlich eine große Vertrautheit und eine enge persönliche Freundschaft entstanden. Ich sehe Helmut regelmäßig, und es ist jedes Mal eine große Freude, mit ihm zu diskutieren.

Beim derzeitigen Führungspersonal scheinen die Meinungsverschiedenheiten ausgeprägt genug, um den viel beschworenen deutsch-französischen Europa-Motor stottern zu lassen. Ist der Treibstoff der Gemeinsamkeiten aufgebraucht?

Giscard (lacht) Ich würde sagen, ein Stopp an der Tankstelle könnte nicht schaden. Man kann nicht bestreiten, dass wir in Europa derzeit etwas auf der Stelle treten. Zum Beispiel habe ich nicht verstehen können, warum man nicht Ihren Finanzminister Wolfgang Schäuble zum Chef der Euro-Gruppe gemacht hat. Er ist der beste Mann für den Posten, ein Kandidat mit dem nötigen politischen Gewicht, um auch international auftreten zu können.

Man sagt, es habe besonders in Paris starke Widerstände gegen seine Ernennung gegeben . . .

Giscard Mag ja sein, aber dann muss man solche Widerstände überwinden. Ich habe mich persönlich bei Präsident Hollande für Schäuble stark gemacht, und es schien mir so, als habe er persönlich keine Einwände gegen ihn als Chef der Euro-Gruppe. Aber so wichtig die Lösung solcher aktuellen Fragen auch ist, man sollte die Leistung der deutsch-französischen Zusammenarbeit in Europa nicht allein daran bemessen. Was mir allerdings fehlt, ist ein gemeinsames mittelfristiges Projekt. Etwas, das man den Bürgern erklären kann und das sich über das Klein-Klein der EU-Bürokratie erhebt.

Was könnte das sein?

Giscard Warum sagen wir nicht: Wir schaffen bis 2030 das geeinte Europa? Eine gemeinsame Währung haben wir schon. Jetzt muss es darum gehen, die Haushaltspolitik einander anzugleichen. Ich meine dabei den großen Rahmen, eine Planung über mehrere Jahre. Die Hoheit über die nationalen Budgets wird weiter bei den jeweiligen Parlamenten liegen. Und schließlich müssen wir die Steuerpolitik stärker harmonisieren, besonders die Unternehmensbesteuerung. Wenn wir das schaffen, dann haben wir eine ökonomisch stabile Zone geschaffen und die Geburtsfehler des Euro ausgemerzt. Und dafür brauchen wir auch keine komplizierten Staatsverträge, damit können wir ganz schnell anfangen, wenn Deutschland und Frankreich vorangehen. Und jene Länder, die mitmachen wollen, sollen mitmachen.

Stichwort "mitmachen": In Deutschland herrscht große Zurückhaltung, wenn es darum geht, sich an der Seite der Verbündeten an militärischen Interventionen zu beteiligen wie jetzt gerade in Mali. Was halten Sie davon?

Giscard Die Deutschen haben vollkommen Recht mit ihrer Zurückhaltung. Ich finde, es gibt einen besorgniserregenden Trend zur militärischen Intervention. Man wird das natürlich nicht immer vermeiden können. Aber man sollte sehr viel vorsichtiger mit diesem Instrument umgehen. Die Erfahrung hat ja gezeigt, dass man auf diese Weise die Probleme nur selten wirklich lösen kann.

Matthias Beermann führte das Interview.

(RP/pst/das)
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