Geschichtsprojekt Sophie Scholl ist jetzt auf Instagram

Sophie Scholl wird von Rechten wie Linken immer wieder vereinnahmt. Dem wirklichen Leben der Widerstandskämpferin gegen das NS-Regime will ein Projekt auf Instagram nahekommen – live, zielgruppengerecht, mit modernsten Kommunikationsmitteln. Ist das eine gute Idee?

 Schauspielerin Luna Wedler stellt Sophie Scholl im Instagram-Account „Ich bin Sophie Scholl“ dar.

Schauspielerin Luna Wedler stellt Sophie Scholl im Instagram-Account „Ich bin Sophie Scholl“ dar.

Foto: SWR/Rebecca Rütten/Sommerhaus Film/SWR - Südwestrundfunk

Eine junge Frau sitzt im Zug nach München. Fröhlich und ein bisschen aufgeregt spricht sie in die Kamera ihres Smartphones. Die Aufnahme wackelt, bei Selfies nicht unüblich, man kennt das. Dann kommt der Schaffner und sagt „Heil Hitler, die Fahrkarten, bitte!“ Und in diesem Moment ist klar, dass in dem bei Youtube zu sehenden Clip etwas nicht stimmen kann. Modernste Kommunikationsmittel und -Kanäle im Nazi-Deutschland des Jahres 1942? Gibt’s doch nicht.

Gibt’s doch, zumindest bei dem Instagram-Projekt von Südwestrundfunk (SWR) und Bayerischem Rundfunk (BR), das sich auf ungewöhnliche Art und Weise Sophie Scholl zu nähern versucht, jener Widerstandkämpferin gegen das NS-Regime, die an diesem 9. Mai vor 100 Jahren geboren wurde. Auf dem Account @ichbinsophiescholl sollen Szenen aus den letzten zehn Monaten ihres kurzen Lebens dargestellt werden, denn das Mitglied der Weißen Rose wurde am 22. Februar 1943 zusammen mit ihrem Bruder Hans hingerichtet.

„Stell dir vor, es ist 1942“, lautet geradezu programmatisch der erste Bildbeitrag, dem innerhalb von nur zwei Tagen bereits knapp eine halbe Millionen Menschen folgen. Das Ganze wirkt in der Tat wie das aktuelle Profil einer jungen Frau in Retro-Szenerie, die von sich erzählt; es gibt jede Menge Selfies, Videos an Originalschauplätzen, Instagram-TV-Clips. Was hat es damit auf sich, wer steckt dahinter?

Bei Instagram, so die Idee der Macher von BR und SWR, soll der Weg der damals 21-Jährigen in die Münchner Widerstandsgruppe bis zu ihrem Tod in Echtzeit und in Form cineastischer Storys nachgestellt werden, gewissermaßen „aus den Geschichtsbüchern herausgeholt und auf dem Medium erzählt werden, wo junge Menschen unterwegs sind“, wie es Lydia Leipert, Digital-Expertin beim BR, formuliert.

Tatsächlich dreht sich die Handlung mit und um Hauptdarstellerin Luna Wedler zum großen Teil um Geschehnisse, die viele junge Erwachsene durchleben: der Weg in die Selbstständigkeit, Liebeskummer, Probleme im Studium. Auf diese Weise soll die historische Figur Sophie Scholl nahbarer werden. Auf der anderen Seite kommt die bedrückende Atmosphäre eines Lebens in der Diktatur zum Vorschein, die Menschen- und Freiheitsrechte mit Füßen tritt und Scholls Schritt in den Widerstand der Weißen Rose begründet.

Die Filmsequenzen verantwortet Regisseur Tom Lass, die Fotos und Postings darum herum die Social-Media-Regisseurin Suli Kurban. Außerdem sind zwei Historikerinnen beteiligt, eine Illustratorin, zwei Autorinnen und viele weitere Darstellerinnen und Darstellern. Das aufwendige Multimediaprojekt ist am 4. Mai gestartet und soll im Februar 2022 enden – am Datum der Verhaftung Sophie Scholls im Jahr 1943, vier Tage vor ihrer Enthauptung im Strafgefängnis München-Stadelheim.

NS-Geschichte verfilmt, das gab es bereits unzählige Male im Kino, im Fernsehen, auf Streamingdiensten. Aber Instagram, das ist der Unterschied, ist ursächlich keine Plattform für Film und Fiktionen, höchstens Fake News sind dort ein großes Thema. Instagram ist vor allem ein zum Leben erwecktes Bilder- und Videotagebuch für echte Menschen. Es wird längst auch professionell genutzt: von Infuencern, die ein Weltbild oder überteuerten Früchtetee verkaufen wollen. Von Prominenten, die um ihre Prominenz ringen. Von Politikschaffenden, die potenzielle Wähler erreichen wollen. Aber historische Figuren? Die gab es in der Form dort so noch nie. Kann so etwas gutgehen?

Man wolle keine gefühlte Geschichtsschreibung machen, betonte Regisseur Tom Lass im „Tagesspiegel“. Er selbst sei zunächst skeptisch gewesen: „Sophie Scholl in der Ich-Perspektive, das kann ja nach hinten losgehen“, habe er gedacht. „Mir war wichtig, dass wir die richtige Tonalität finden, uns nicht der Zielgruppe anbiedern.“ Immerhin, das Feedback auf Instagram, Twitter und Youtube ist fast ausschließlich positiv. Lehrkräfte berichten von uneingeschränkten Empfehlungen an ihre Schulklassen – vor allem als Ergänzung zum Unterricht.

Zwar nimmt das Dritte Reich im Lehrplan großen Raum ein, ein Format auf Instagram aber könnte womöglich noch zielgerichteter junge Menschen erreichen, die dort ohnehin viel Zeit verbringen – mit NS-Geschichte aber noch nicht viel anfangen konnten. Der Kunstkniff, der für die Annäherung an Sophie Scholl auf Instagram verwendet wird, ist ein Experiment, bei dem es durchaus Tücken gibt: Echtzeit und eine quasi-dokumentarische Erzählweise der Vergangenheit mit Mitteln des Internetzeitalters könnten als Parallele zu Gegenwart missverstanden oder bewusst umgedeutet werden.

Tatsächlich wird die Erinnerung an den Widerstand Sophie Scholls aktuell von Menschenrechtsaktivisten, Querdenkern und Politikern am rechten Rand missbraucht. „Wir wollten die Gegenwart auf keinen Fall mit der Nazi-Diktatur gleichsetzen“, stellt Regisseur Lass klar. „Das verbietet sich, auch wenn es Menschen gibt, die das heute versuchen.“ Hauptdarstellerin Luna Wedler betont, wie wichtig das Vorbild Sophie Scholls gerade in Zeiten von Fake News sei: „Das ist etwas, was wir uns bei ihr abgucken können: mehr nachdenken, mehr hinterfragen.“

Auch Hildegard Kronawitter, Vorsitzende der Weiße Rose Stiftung e.V., gibt sich optimistisch: Die Stiftung unterstütze mit „Wohlwollen und großer Neugierde die aufregende Instagram-Serie @ichbinsophiescholl, da sie das gleiche Interesse verfolgt: junge Generationen über den Widerstand im Nationalsozialismus zu informieren und aufzuklären“.

(jra)
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